Grenzen und Grenzgebiete in Europa: ein Spaziergang

Publié le 11/06/2019
Auteur(s) : Pascal Orcier, professeur agrégé et docteur en géographie, cartographe, enseignant en CPGE - lycée Dumont d’Urville à Toulon (83)
Traduction de :
Charlotte Musselwhite-Schweitzer, professeure des écoles (retraitée) - académie de Rennes

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Im Jahr 2023 besitzt die Europäische Union Landgrenzen von 14 647 km Länge, die sie mit 21 Staaten teilt, und von denen sich 8 651 km an ihrer Ostflanke befinden. In Raum und Landschaft ist diesen Grenzen die Geschichte der Konflikte, der Versöhnungen und der noch immer offenen Wunden der Vergangenheit eingeprägt. Als eine Einladung an die Leser.innen zu einer Führung an mehreren Grenzabschnitten kommt dieser Artikel auf die Verschiedenartigkeit der europäischen Grenzkonstrukte zu sprechen, auf ihre geschichtlichen Ursprünge und auf ihr aktuelles geopolitisches Gefüge.
Sommaire
  1. 1. Wahrnehmungen und Darstellungen von und in Europa
  2. 2. Die Ostgrenze der Europäischen Union
  3. 3. Die EU Grenzen im Mittelmeer
  4. 4. Die Grenzen im Balkan
  5. 5. Die Grenzen in Westeuropa
  6. 6. Die Überseegrenzen der EU

Bibliographie | Diesen Artikel zitieren | Deutsch | français

Das politische Europa ist ein neuer Kontinent in dem Sinn, dass sein aktuelles politisches Gefüge das Produkt von Veränderungen in jüngerer Vergangenheit ist. Die Jahrzehnte um 1990 und 2000 sahen das Auseinanderbrechen mehrerer Staaten in neue, unabhängige Einheiten - anerkannt oder nicht - welche das politische Gefüge des Kontinents komplexer gemacht haben. Zur gleichen Zeit haben die Erweiterung der Europäischen Union und die Verstärkung ihrer Integration die Wahrnehmung und den Betrieb ihrer Grenzen verändert. Die inneren Grenzen wurden entwertet - aber nicht abgeschafft - während die äußeren Grenzen, mehrfach verschoben, verstärkte Kontrollfunktionen erhielten. Dabei sind einige von ihnen in Erwartung neuer Erweiterungen nur "vorübergehend", andere erscheinen hingegen als endgültig und werden gelegentlich symbolisch überhöht: Sie decken sich mal mit alten Frontverläufen, mal mit kulturellen oder ideologischen Linien, sie bestrafen oder belohnen nach einem Krieg, öffnen sich mehr oder weniger nahen Nachbarn oder wollen vor einem "Anderen" schützen, den man zurückweist. Die Grenzproblematiken haben sich aus dem befriedeten und für den Austausch offenen Westeuropa entfernt. Dafür sind sie noch tief in den angrenzenden Regionen mit ihren Funktionsweisen und Darstellungen verwurzelt. Darum geht es im folgenden Aufsatz, es ist eine nicht erschöpfende und lebendige Übersicht über die Außengrenzen der EU, im Zuge der Wanderschaft des aufmerksam betrachtenden Geographen durch diese besonderen Räume. Die Grenze dringt in die individuellen und kollektiven Vorstellungswelten ein, definiert die Staaten als politische Einheiten und Beziehungspunkte für die Menschen, die in ihnen leben. Nun variieren diese Vorstellungswelten von einem Staat zum anderen und stellen damit die Frage nach einem Zentrum. Mal mit ausgesprochenen ideologischen Auffassungen, mal implizit oder nicht eingestanden, erlauben sie teilweise das Verständnis von gewählten Strategien, Ängsten und Potenzialen. Wie sehen diese Grenzen konkret aus? Wie sind ihre materiellen und symbolischen Aspekte zu begreifen?

 

1. Wahrnehmungen und Darstellungen von und in Europa

Die Grenzen des Kontinents Europa sind konventionelle Grenzen und fußen teils auf alten Wahrnehmungen, die manchmal zurück in die griechische Antike reichen, teils auf in der Moderne getroffenen Entscheidungen. Die Wahrnehmung der Europäer variiert jedoch je nach der Lokalisierung ihres Landes und der Bedeutung von Gewohnheiten und Gepflogenheiten.

1.1. Eine Frage des Standpunkts

Europa, von Riga aus gesehen

Pascal Orcier

Lettland, Peripherie der UdSSR (1945-1991)

Pascal Orcier — Lettland

Lettland, an der nordöstlichen Peripherie der Europäischen Union?

Pascal Orcier — Lettland, an der nordöstlichen Peripherie der Europäischen Union?

Lettland erscheint von Frankreich aus als Staat Ost- oder Nordeuropas, jedenfalls weit vom politischen und wirtschaftlichen "Herzen" Europas entfernt, am Rande des Kontinents; hingegen definiert sich Lettland selbst sowohl im geometrischen Zentrum des Kontinents, als auch historisch und kulturell zu Westeuropa gehörig.

Diese Wahrnehmung seines Orts auf dem Kontinent, welche sich in den Schulbüchern und Atlanten des Landes wiederfindet, übrigens auch im benachbarten Litauen, wurde seit den 1990er Jahren als Rechtfertigung und Legitimation des Wunsches nach Integration in EU und NATO benutzt, nachdem das Land 1991 seine Unabhängigkeit wiedergefunden hatte. Es positioniert sich als Schlüsselland im Kontakt zu "Osteuropa", welches von seinem Standort aus Russland und Belarus bezeichnet.

Diese Darstellung versteht sich auch als Bruch mit der Sowjetzeit, während der Lettland in einer Ecke "oben links" auf den Landkarten der Sowjetunion abgebildet war! Das Land möchte sich nunmehr als Brücke zwischen Ost und West darstellen, als Eingangstor und damit attraktive Region für Unternehmen, die ihre Tätigkeit zwischen diesen beiden Teilen Europas zu entwickeln suchen. Repräsentation, politische Anschauungen, Marktstrategien und Geopolitik sind hier eng verknüpft.

Europa, von Moskau gesehen

Pascal Orcier — Europa, von Moskau gesehen

Von Russland aus gesehen jedoch, diesem Staat zwischen Europa und Asien, ist Europa der Zugang zum Meer, dieser wohlhabende und innovierende, aber auch als kulturell dekadent angesehene Raum, an den das Land seit dem achtzehnten Jahrhundert mehrfach Anschluss gesucht hatte, dem es sich annähern wollte oder welches es zu kontrollieren versuchte. Das ist ihm nur zeit- und teilweise gelungen. Europa ist ein Raum, zu dem es sich zwar kulturell und ethnisch zugehörig fühlt, von dem aber auch die Invasionen der beiden vergangenen Jahrhunderte (Napoleon, Hitler) ausgegangen waren, und in dem sich in den vergangenen drei Jahrzehnten ein trojanisches Pferd für den expandierenden US-amerikanischen Einfluss (EU und NATO) herausgebildet hat, vor dem Russland sich schützen muss. Die Remilitarisierung der westlichen Grenzen und die Erhöhung der Militärausgaben sind so eine Antwort auf diese feindselige Wahrnehmung Europas, das ihm den Rücken gekehrt habe.

Europa, von London gesehen

Pascal Orcier — Europa, von London gesehen

Von England aus gesehen ist Europa die kontinentale Landmasse jenseits des Ärmelkanals und der Nordsee, wo es, historisch betrachtet, ein politisches Gleichgewicht herzustellen versucht hat, ohne je selbst voll und ganz dazugehören zu wollen. Geschichtlich gesehen wird der Ärmelkanal als Schutz wahrgenommen, als Verteidigungslinie (gegen Napoleon, dann gegen Hitler, heute gegen die Migranten) und als ein Faktor kultureller Abgrenzung, der die Insellage verstärkt. Dabei ist das nur eine Frage der Wahrnehmung, da der Ärmelkanal nie ein Hindernis war (vgl. die Arthurlegende, die normannische Herrschaft, die Krondomäne der Plantagenets). Mit dem Verlust von Calais (1558), dann der Abtretung Dünkirchens an Frankreich im Jahr 1662 verlor England seine kontinentale Verankerung. Dabei mag auch daran erinnert werden, dass das Königreich Hannover in Deutschland von 1814 bis 1837 eine Personalunion mit den britischen Herrschern darstellte ... und dass die britische Besatzungszone in Deutschland von 1945 bis 1949 von der Nordseeküste bis in das Landeszentrum reichte. Der Status der Kanalinseln ist ein weiterer Hinweis darauf, dass der Ärmelkanal nicht immer eine Grenze gewesen ist.

 

Jedenfalls spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle bei der Prägung von Raum und Alltagserfahrung durch die Grenze. So hat der Eiserne Vorhang 1947 den Kontinent politisch, wirtschaftlich und kulturell in zwei geschnitten und damit auch differenzierte und dauerhafte Vorstellungen geschaffen. Er war bis 1989 der letzte Horizont des westlichen Blocks beim Aufbau der europäischen Gemeinschaft. Übrigens, was wurde konkret in diese Bezeichnung gepackt? Tatsächlich hat sich die Realität im Lauf der Zeit weiterentwickelt, wurde zunehmend komplexer und verhüllte auch gelegentlich andere Grenzen. Ist der Eiserne Vorhang selbst nicht auch eine ideologische Konstruktion, welche sich mal als bedrohlich, mal als beruhigend und vereinfachend gab?

1.2. Geerbte Grenze: ein oder mehrere Eiserne Vorhänge?

« Von Stettin an der Ostsee, bis nach Triest an der Adria, ist ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent heruntergegangen. »

So beschrieb Winston Churchill, ehemaliger britischer Premierminister, die geopolitische Lage in Europa in seiner berühmten Rede an der Fulton Universität im Staat Missouri, am 5. März 1946. Dieser Ausdruck wurde dann als Bezeichnung für die strategische Grenze übernommen, welche Europa in zwei antagonistische und fast hermetische Blöcke für die folgenden fünfundvierzig Jahre geteilt hat. Nach wie vor präsent in den Erinnerungen und Vorstellungen, hatte sie einen dauernden Einfluss auf Entwicklungsniveaus und Mentalitäten. Jedoch enthält ihr Verlauf beim Vergleich verschiedener Handbücher und Landkarten etliche Varianten und Zonen der Ungewissheit, es muss gleichwohl der Begriff selbst von Schnitt und Bruch durch diese Grenze hinterfragt werden.

Ein oder mehrere "Eiserne Vorhänge"?

Pascal Orcier — Ein oder mehrere "Eiserne Vorhänge"?

 
Veränderungen des Verlaufs der Landgrenze

Der Hauptabschnitt zwischen den von Churchill zitierten Grenzstädten Stettin und Triest erlitt nach 1946 einige Veränderungen wegen der nachfolgenden Regelungen, die mit den zum Zeitpunkt der Rede noch offenen Grenzfragen zusammenhingen. Zunächst wurde die Stadt Stettin am rechten Oderufer in das kommunistisch gewordene Polen integriert und damit von da an Szczecin genannt. Die dauerhafte Teilung des von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzten Deutschland führte dann zur Schaffung von zwei getrennten Staaten, der BRD und der DDR, jeweils im Mai und Oktober 1949, was den Grenzverlauf des Eisernen Vorhangs in der Tat 250 km nach Westen verschob, von der Oder-Neiße-Linie bis zur neuen innerdeutschen Grenze in der Nähe der Hafenstadt Lübeck. Die Aufrechterhaltung der Teilung Berlins, die sich dann mit dem Bau der Mauer 1961 konkretisierte, führte zur Entstehung einer Enklave.

An der Südspitze ist die Stadt Triest, die zur Verbindungsstelle zwischen den jugoslawischen Partisanen, welche die Stadt am 1. Mai 1945 erobert hatten, und den britischen Truppen geworden war. Eine Demarkationslinie namens "Morgan-Linie" wurde am 10. Juni festgelegt. Marschall Tito, der jugoslawische Befehlshaber, beanspruchte darauf ganz Istrien. Das Pariser Abkommen von 1947 schuf eine neutrale Republik zwischen Italien und Jugoslawien, unter UNO-Aufsicht, das Freie Territorium von Triest. Es ist in zwei ethnisch definierte Zonen aufgeteilt. Erst 1954 wird die italienisch-jugoslawische Grenze neu gezogen, welche die Stadt Triest Italien, das Hinterland jedoch Jugoslawien zuteilt. Daraus resultiert ein Landanhängsel, welches die Stadt mit dem übrigen Italien verbindet.

1955 führt eine Vereinbarung der Besatzungsmächte zur Evakuierung Österreichs, zur Wiedervereinigung Wiens und Neutralisierung des Landes. Der Eiserne Vorhang, der damals Ober-Österreich (unter amerikanischer Besatzung) und die Steiermark (unter britischer Besatzung) von Nieder-Österreich und dem Burgenland (unter sowjetischer Besatzung) trennte, verlagerte sich damit um 160 km nach Osten, auf die österreichisch-ungarische und österreichisch-tschechoslowakische Grenze.

In der Zwischenzeit brach im Februar 1946 in Griechenland der Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten aus, welcher mit der Niederlage der letzteren endete und damit das Land, dessen Zukunft damals noch ganz unsicher erschien, an den westlichen Block band. Damit wurden die Nordgrenzen Griechenlands hermetisch abgeriegelt, wobei noch immer Ängste um deren Sicherheit bestanden im Licht der territorialen Absichten der Nachbarländer mit ihren noch jungen Grenzen, die seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere Kriege ausgelöst hatten. Das Land schließt sich 1952 der NATO an. Seine Beziehungen zur Türkei hatten sich seit der Vertreibung der Griechen aus Anatolien 1923 ständig verschlechtert. Die griechisch-türkische Grenze war vermint, der Fluss Evros galt als Hauptverteidigungslinie gegenüber der Türkei. Die Dörfer im Grenzbereich von Bulgarien und Türkei wurden einem speziellen militärischen Regime unterstellt. So verband ein weiterer Abschnitt des Eisernen Vorhangs die Adria mit dem Schwarzen Meer. Darüber hinaus verlängerte er sich an der türkisch-sowjetischen Grenze entlang.

Seit ihrer Gründung 1949 hatte die NATO in Europa eine 196 km lange direkte Grenze mit der UdSSR, im Norden Norwegens (die UdSSR hatte 1944 die Gegend von Petsamo annektiert, die zuvor finnisch war), welche logischerweise den Eisernen Vorhang verlängerte.

Eine wichtige maritime Dimension

Adria und Schwarzes Meer wurden ebenso wie die Ostsee wegen der Zugehörigkeit der Anrainerstaaten zu den beiden verschiedenen Blöcken strengstens überwacht. Die Türkei hatte sich 1952 der NATO angeschlossen und stand damit allein gegenüber den Flotten des Warschauer Pakts.

Meistens wird der Verlauf des Eisernen Vorhangs ausschließlich auf dem Land dargestellt. Dabei ist die Trennung ebenso wirksam auf den Meeren, und die Wehranlagen an den Küsten und auf den Inseln sind weithin sichtbar. Der Eiserne Vorhang erstreckte sich durch die Ostsee: Die schwedische Insel Gotland war im Zentrum der schwedischen Verteidigungsanlage und wurde erst 2005 demilitarisiert. Ihr gegenüber hatte die UdSSR die baltischen Küsten stark militarisiert, und der Lokalbevölkerung keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu ihren Küsten gestattet. Die Sandstrände Kurlands wurden regelmäßig gerecht, um eventuelle Fluchtversuche aufzuspüren, während in der geheimen Stadt Irbene (Lettland) ein riesiger Radar aufgebaut wurde. In der Adria war der Zugang zur Insel Vis vor der Stadt Split bis 1989 den Ausländern wegen ihrer strategischen Bedeutung verschlossen.

Finnland und Jugoslawien, zwei Staaten zwischen zwei Blöcken

Finnland befindet sich in einer ambivalenten Situation. Weder auf die USA ausgerichtet, noch von der UdSSR besetzt (mit Ausnahme des Marinestützpunkts Porkkala, der 1944 der UdSSR für fünfzig Jahre überlassen worden war und 1956 endgültig zurückgegeben wurde), hat Finnland 1948 mit letzterer einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit unterzeichnet, der einerseits der UdSSR Sicherheit, und andererseits Finnland die Unabhängigkeit garantiert. Finnland hält sich an eine strikte Neutralität und unterlässt jegliche Maßnahme, welche dem östlichen Nachbarn schaden könnte, eine Politik, die als "Finnlandisierung" bezeichnet wird (ein umstrittener Begriff, der sowohl Neutralisierung mit dem Verzicht auf volle Ausübung der Souveränität als auch Erhaltung von Demokratie und Unabhängigkeit bedeutet). Es lehnt aus diesem Grund den Marshallplan und den Anschluss an die NATO ab, führt jedoch eindeutig demokratische Institutionen sowie die Marktwirtschaft ein, womit es sich trotz allem in das westliche Lager einbindet. Kein "Kalter Krieg" also zwischen den beiden Ländern, die UdSSR hat jedoch an der gemeinsamen Grenze ähnliche Überwachungsanlagen wie an den anderen Grenzen zum Westen errichtet, und zwar über einige Kilometer tief ins Land hinein.

Jugoslawien stellt einen Sonderfall dar wegen des Bruchs zwischen Tito und Stalin seit März 1948. Das Land wird aus dem Kominform ausgeschlossen und vom Ostblock verbannt. Belgrad verweigert 1955 die Teilnahme am Warschauer Pakt trotz der zwischenzeitlichen Versöhnung. Diese Stellung im Abseits hat das Land innerhalb des Ostblocks isoliert. Seine Rolle in der Bewegung der Blockfreien verschaffte ihm einen Sonderstatus. Obwohl kommunistisch, blieb das Land offen für westliche Touristen, während es seine Grenzen mit den anderen Ostblockländern in den Krisenzeiten von Budapest (1956) und Prag (1968) aus Furcht vor einem Eingreifen der Roten Armee verschloss. Touristen aus Ost und West konnten sich also dort begegnen. So erklären sich die Karten des Eisernen Vorhangs, auf denen Jugoslawien in einer Doppelrolle erscheint, als eine Art Übergangszone zwischen den Blöcken. Albanien hingegen hat sich zu einer totalen Isolierung entschlossen, mit völliger Abschottung und Verstärkung seiner Landgrenzen sowohl mit dem zum Westblock gehörigen Griechenland als auch mit dem ideologisch "abtrünnigen" Jugoslawien, das womöglich die Souveränität des Landes bedrohen könnte.

Es gab also eine Entwicklung im Zeitverlauf und in der Ausprägung des Eisernen Vorhangs: Mal eine militarisierte physische Grenze unter strenger Bewachung, mal eine mehr oder weniger poröse Durchgangszone für die Bürger des jeweiligen Blocks, mal eine Mauer zwischen zwei Ländern des gleichen Blocks. Sein Verlauf wurde mit dem sich abzeichnenden Schicksal der betreffenden Territorien festgelegt und verändert. Er erstreckte sich nicht nur von der Ostsee zur Adria, sondern von der Barentssee bis zum Kaukasus, durch den Balkan und das Schwarze Meer, und verlängerte sich dann in Asien unter der Bezeichnung "Bambusvorhang". Tatsächlich hat es im Lauf der Jahre mehrere eiserne Vorhänge gegeben, in Verbindung mit geopolitischen Unwägbarkeiten und internationalen Beziehungen.

Nun gab es jedoch auch andere tiefe Brüche innerhalb der beiden Blöcke, die manchmal zur Errichtung von ähnlichen Schutzanlagen führten, und in denen sich reale Spannungen widerspiegelten, welche durch die Logik der Blöcke und eine manichäistische Lesart der internationalen Beziehungen eher verschleiert wurden.

Der Eiserne Vorhang gehört nunmehr zur europäischen Geschichte, und obwohl er weder vermisst noch bewahrt wird, wurde er hier und da zu einem besonderen Ort gemacht. Nunmehr Gedenkstätte oder einfache Touristenattraktion, ein Radwanderweg führt an seinem ehemaligen Verlauf entlang.

In der Slowakei, 8 km von Bratislava entfernt, liegt das Dorf Devin im Schatten einer mittelalterlichen Befestigungsanlage. Die Zitadelle erhebt sich über dem Zusammenfluss von March und Donau, Überreste einer alten Grenze zwischen dem Österreich Habsburgs und dem Königreich Ungarn. Nach der Zerstörung durch die napoleonischen Truppen 1809 wurde dort 1896 eine Säule zur Feier des tausendjährigen Königreichs Ungarn errichtet, die dann 1921 von der unabhängigen Tschechoslowakei gesprengt wurde. Die Ausmaße der Deiche an Donau und March entlang sind heute noch Zeugen der Überwachungsanlagen seit 1947, obwohl die Osthälfte Österreichs damals unter sowjetische Besatzung stand (bis 1955).

Pascal Orcier — Devin Slovaquie Pascal Orcier — Devin Slovaquie Pascal Orcier — Devin Slovaquie

Ein leeres Gebäude steht noch immer am Flussufer. Ein Denkmal wurde am Zusammenfluss errichtet, um an das tschechoslowakische Regime nach 1947 und die Opfer des Eisernen Vorhangs zu erinnern. Interessanterweise hat sich das ehemalige no man's land als Vorteil für die Erhaltung der Biodiversität herausgestellt: Der gesamte Sektor wurde zu einem europäischen Landschaftsschutzgebiet Natura 2000.

March und Donau trennen heute Österreich und Slowakei, aber auf den neueren Stadtplänen von Devin entlang dem Radwanderweg erscheint die Grenze gar nicht mehr. Kreuzfahrtschiffe und Lastkähne fahren auf der Donau, die seit 1922 international verwaltet wird.

Pascal Orcier — Devin Slovaquie

Pascal Orcier — Devin Slovaquie

1.3. Die Vervielfachung der Grenzen in Europa seit 1989

Das politische Gefüge des europäischen Kontinents war während des Kalten Kriegs von 1947 bis 1990 durch Stabilität gekennzeichnet: Es gab keine Grenzänderungen oder Staatsgründungen während dieses Zeitabschnitts. Danach jedoch wurde er mehrfach in den vergangenen drei Jahrzehnten umgestaltet, im Zuge der deutschen Wiedervereinigung einerseits, und des Zerfalls von UdSSR, Jugoslawien und Tschechoslowakei unter je unterschiedlichen Bedingungen und besonderen zeitlichen Gegebenheiten andererseits. Das führte zu einer Vervielfachung der Grenzen und einer verstärkten politischen Zersplitterung.

Vervielfachung der Grenzen seit 1990

Pascal Orcier — Vervielfachung der Grenzen seit 1990

Neue Staaten sind auf der politischen Landkarte Europas erschienen, wie die Slowakei oder Slowenien. Andere sind wiederaufgetaucht nach vielen Jahren Einverleibung in ein größeres Staatsgebilde (50 Jahre für die baltischen Staaten, 88 Jahre für Montenegro und Serbien); wieder andere hatten nur ein kurzlebiges und umstrittenes Dasein, wie die Ukraine und Georgien zwischen 1918 und 1921. Bosnien existierte vorher nur als Region unter österreichischer Verwaltung (1878 bis 1908), Kroatien war lediglich ein Marionettenstaat zu Hitlers Diensten (1941-1944). Republik Moldau (oder Moldawien) war lange zwischen der unwahrscheinlichen Integration in den Staat Rumänien, zu dem sie von 1918 bis 1940 gehört hatte, und der schwierigen Ausformung einer eigenen Identität hin- und hergerissen. Dazu kommen die tatsächlichen, nicht anerkannten Grenzen von selbsternannten Republiken, die sich im ehemals sowjetischen Bereich konzentrieren.

Abtrünnige Republiken rings um das Schwarze Meer

Pascal Orcier — Abtrünnige Republiken rings um das Schwarze Meer

Diese neuen Grenzen verlaufen meist entlang alter Verwaltungs- oder Reichsgrenzen. Sie haben als solche eine Geschichte. Sie sind Symbole einer wiedererlangten oder neu erworbenen Souveränität und manchmal immer noch umstritten oder nicht genau abgegrenzt, insbesondere auf dem Balkan. Ihre Normalisierung ist eine notwendige Etappe zur Beilegung von Streitigkeiten und zur Integration in die Europäische Union, dieser überstaatlichen Einheit, die sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Garant eines stabilen Friedens auf dem Kontinent etabliert hat.

 

2. Die Ostgrenze der Europäischen Union

Die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) war ursprünglich eine zusammenhängende europäische Landmasse, die sich durch die nachfolgenden Erweiterungen nach Norden, nach Süden und nach Osten ausgedehnt hat. Dadurch hat sich die Grenzlinie sowohl zu Land als auch zu Wasser erheblich verlängert. Die Verstärkung der gemeinschaftlichen Vorrechte in Sachen Grenzverwaltung seit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 hat den äußeren Grenzen die Kontrolle der Wanderungsbewegungen auferlegt, welche bis dahin von den Staaten ausgeübt wurde. Diese Grenze hat indessen ein spezielles Profil und eine besondere Funktionsweise.

2.1. Kontinuität und Enklaven

Die Grenzen der EU sind sowohl Land- als auch Seegrenzen in Europa und Übersee. Im Inneren der EU gibt es drei große Enklaven, nämlich den westlichen Balkan, die Schweiz und Liechtenstein, sowie die russische Enklave Kaliningrad. Dazu kommen Andorra, Monaco, der Vatikan und San Marino. Diese Staaten haben jedoch offene Grenzen und Abkommen mit der EU oder ihren Mitgliedern über bestimmte hoheitliche Funktionen (Außenpolitik, Verteidigung, Währung, ...).

Pascal Orcier — Enklaven im Inneren der EU

Enklaven im Inneren der EU

Pascal Orcier — kaliningrad

Oblast Kaliningrad

Der Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten haben die Oblast Kaliningrad physisch vom übrigen Russland getrennt. Die Integration Polens und Litauens in die EU im Jahr 2004 hat diese Trennung der Enklave vom Umland verstärkt. Und umgekehrt hat das Bestehen dieser russischen Enklave dazu geführt, dass die baltischen Länder mit dem Rest der EU und ihrem Verkehrsnetz zu Land (Straße, Schiene, Energieleitungen) nur über die kurze polnisch-litauische Grenze (90 km) verbunden sind.

 
Längenentwicklung der EU Ostgrenze seit 1989
Datum Anzahl der Grenzdyaden Anzahl der Grenzländer Länge der Grenze*
1989 12 8 5 994 km
1990 12 8 5 419 km
1995 19 13 9 248 km
2004 25 13 10 537 km
2007 29 12 12 008 km
2013 30 13 12 449 km

Inklusive Seegrenzen (Ostsee, Schwarzes Meer, Ägäis), oder 8 651 km Landgrenzen.

 

Die Frage der EWG-Grenzen stellte sich bei ihrer Gründung im Jahr 1957 wegen der geopolitischen Realität des Kontinents nicht: Dieser war durch den Eisernen Vorhang in zwei geteilt, einer "heißen" Grenze im Kalten Krieg, einer von beiden Seiten streng bewachten hermetischen Grenze. Der Abbau des Eisernen Vorhangs hat der Erweiterung neue Horizonte eröffnet und damit die Frage der zukünftigen oder gar der letzten Grenzen des gemeinschaftlichen Projekts neu gestellt. Gibt es auferlegte Grenzen? Ideale Grenzen? Vernünftige Grenzen? Diese Grenzen haben nicht alle das gleiche Gewicht im Hinblick auf ihre Probleme, auf die Beziehungen des Nachbarstaats zur EU und seines Entwicklungsstands. So sind die Grenzen mit der Schweiz und Norwegen offen im Rahmen des Schengenraums, die Ostgrenzen hingegen werden wegen der Migrationskrise streng überwacht.

Die Länge dieser Grenze hat sich durch die nachfolgenden Erweiterungen in fünfzehn Jahren verdoppelt. Von Westeuropa aus gesehen hat sie sich entfernt, ist sie verschoben worden. Sie fehlt also im Alltag, außer wenn die Bilder von aus dem Meer geborgenen Migranten bei Sizilien oder in der Ägäis diese Realität wachrufen. Die Europäische Union hat seit 1995 eine gemeinsame Grenze mit Russland. Der Beitritt der Türkei - der zur Zeit unwahrscheinlich ist - würde ihr eine Grenze mit dem Iran, Irak und Syrien geben.

Diese Grenze zu sichern bringt Kosten für die Mitgliedsstaaten mit sich: Schranken, Zäune und manchmal Mauern wurden errichtet. An diesen auswärtigen Grenzen der Union finden verstärkte Kontrollen statt, Patroullien und ständige Überwachung. Hierzu wurde 2004 die Frontex-Agentur gegründet, die 2016 zur Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache wurde. Ihr Sitz ist in Warschau.

Landgrenzen der Europäischen Union

Pascal Orcier — Landgrenzen der Europäischen Union

Die Ostgrenze der EU wird sich voraussichtlich nicht in einen neuen Eisernen Vorhang verwandeln. Jedoch ist sie, mit Ausnahme der Dyaden Europa-Ukraine und Europa-Moldau – beides Kandidaten zur Mitgliedschaft, deren Grenze daher als “provisorisch” gilt – zu einer tiefen Bruchlinie des Kontinents geworden, zwischen zwei Regierungsmodellen, zwei Geisteswelten, zwei rivalisierenden und feindlich gewordenen Organisationszentren. Die europäischen Regionen an der Ostgrenze entlang gehören zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten der 27 Mitgliedsstaaten. Sie befinden sich in nationalen Randzonen, manchmal in einer Sackgasse, ohne Wirtschaftsvielfalt und Dynamik, bei sinkenden Bevölkerungszahlen. Dafür werden sie von der EU unterstützt, was oft den Abstand in Sachen Entwicklung zu den Nachbarregionen verstärkt. Dies lässt sich oft am Pro-Kopf-BIP ablesen. Diese neue “Entwicklungsgrenze”, an der entlang man dafür ein Gefälle von 1 zu 5 feststellen kann, hat sich seit dem Ukrainekrieg mit seinen menschlichen und wirtschaftlichen Folgen noch verstärkt.

Die Ostgrenze der Europäischen Union: Eine Entwicklungsgrenze, die sich vertieft

Die Ostgrenze der Europäischen Union: Eine Entwicklungsgrenze, die sich vertieft

2.2. Die Grenze Europäische Union – Russland

Pascal Orcier — Frontière UE Russie

Die EU und Russland haben seit 1995, dem Jahr der Mitgliedschaft Finnlands, eine gemeinsame Grenze. Dieser Grenze von 1300 km Länge sind 2004 neue Teilstücke angefügt worden (Polen - Russland, Litauen - Russland, Estland - Russland und Lettland - Russland), womit diese Landdyade die längste zwischen der EU und einem Nachbarstaat ist (2284 km). Sie ist mit hoher symbolischer und historischer Bedeutung befrachtet. Für die baltischen Staaten symbolisiert sie die schwer erkämpfte Unabhängigkeit im Jahr 1920, welche im Jahr 1990/1991  mit dem Tod mehrerer Grenzwachen neu besiegelt wurde; sie erinnert auch an die Invasion durch die Rote Armee im Mai 1940 und an die Kämpfe von 1944, mit denen die erneute Besetzung der Region durch die Sowjetunion begann; schließlich bleibt auch die Amputierung eines Teils von Estland und Lettland (Setumaa für Estland und der Distrikt Abrene für Lettland) unvergessen. Für Finnland erinnert sie an das Trauma des Winterkriegs (1940) und des Fortsetzungskriegs mit der Sowjetunion (1941 - 1945), welche zum Verlust Kareliens, des Distrikts Petsamo und der Region Salla geführt hatten.

Pascal Orcier — carte territoires perdus de la Finlande

Finnlands Gebietsverluste 1947.

Neito

Neito, finnische Symbolfigur, vor den Verlusten von 1944.

Neito

Neito, nach den Verlusten von 1944.

Die finnische Kleinstadt Imatra besitzt ein Grenzmuseum, das 1989 eröffnet wurde. Es beschreibt die Geschichte der Landesgrenzen. Der Verlust Kareliens 1944 verursachte die Vertreibung von über 400 000 Menschen. Der Betrieb des zwischen 1845 und 1856 gebauten Saimaa-Kanals, der die inländischen Seen Finnlands mit dem nun russisch gewordenen Hafen von Wyborg verband, wurde dadurch dauerhaft gestört. Finnland verlor seinen Zugang zur Barentssee. Die nationale Ikonographie musste daher die volkstümlichen Darstellungen des nationalen Symbols Neito an einen neuen Kartenhintergrund anpassen.

Pascal Orcier — photographie monument Légion Wallonne

Denkmal zur Erinnerung an die "Wallonische Legion" in Sinnimae (Estland), wenige Kilometer von Narva entfernt. Pascal Orcier, 2008.

In den Kämpfen von 1944 standen sich die Rote Armee und die Wehrmacht gegenüber, die von antibolschewistischen Freiwilligen aus Westeuropa und von den Balten unterstützt wurde, welche die Rückkehr des sowjetischen Besatzers befürchteten (die erste Besetzung von Mai 1940 bis Juni 1941 hatte die Zerstörung der baltischen Staaten, die Deportation von Gegnern und Lokalpolitikern und viele Fälle von Folter mit sich gebracht).

Pascal Orcier — photographie stèle Narva

Sowjetische Gedenksäule in Narva (Estland), P. Orcier, 2007.

Gegenüber der vorigen Gedenkstätte birgt das linke Narva-Ufer eine größere Anzahl von Gedenksäulen aus der Sowjetzeit zur Erinnerung an die menschlichen Opfer bei der Rückeroberung der Gegend aus den Händen der Nazis. Die kommunistischen Symbole, obwohl sie in Estland mit einer verbrecherischen und totalitären Ideologie verbunden werden, sind nach wie vor zu sehen.

Pascal Orcier — photographie Vieux croyants

Orthodoxe Kirche der Alten Gläubigen in Mustvee (Estland), P. Orcier, 2008.

Auf estnischer und lettischer Seite der Grenze lebt immer noch eine religiöse Minderheit, die Alten Gläubigen. Es sind Dissidenten der russisch-orthodoxen Kirche, die gegen eine Reform des Patriarchats von Moskau zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren. Um weiterhin gemäß ihrem Kult zu leben, ohne verfolgt zu werden, haben sie sich auf dem Westufer des Peipussees niedergelassen.

Pascal Orcier — photographie forteresse Narva

Brücke über die Narva und Festungen der Städte Narva (Estland) und Ivangorod (Russland), P. Orcier, 2007.

Die estnische Stadt Narva, dieser emblematische Ort an der Grenze, ist überwiegend russischsprachig und stellt auf der Achse Tallinn-Sankt Petersburg die Hauptverbindung zu Land zwischen beiden Staaten dar. Die einzige Brücke über die Narva reicht nicht für den Straßenverkehr aus. Die sich gegenüberstehenden Festungen gehen auf die alte Grenze zwischen dem dänischen Estland vom 12. bis zum 18. Jahrhundert zurück, danach auf den Livländischen Orden und die schwedischen Besitzungen Russlands.

Pascal Orcier — carte lagune des coures

Pascal Orcier — photographie nida

Düne auf der Kurländischen Halbinsel in Nida (Litauen), P. Orcier, 2004.

Kilometer Kiefernwald durchquert hat, liegt das alte litauische Fischerdorf Nida. Auf der anderen Seite der Landzunge zwischen Lagune und Ostsee erstreckt sich ein langer Sandstrand. Der Übergang nach Russland wird kaum genutzt, da er abseits der wichtigen Verkehrsachsen mitten in einem Naturschutzgebiet liegt. Die über Nida ragende Düne bietet ein grenzüberschreitendes Panorama. Eine Informationstafel auf russischer Seite erwähnt die Existenz eines ehemaligen französischen Gefangenenlagers des deutsch-französischen Kriegs von 1870.

Pascal Orcier — photographie kybartai

Öltransport auf Durchfahrt in Kybartai (Litauen), P. Orcier, 2008.

Kybartai ist die wichtigste Übergangsstelle der russischen Züge auf der Durchfahrt durch litauisches Gebiet nach Kaliningrad. Die kleine Stadt lebt im Rhythmus von Öffnung und Schließung der Bahnübergänge für abwechselnde Personen-, Erdöl- und Güterzüge. Russische Passagiere benötigen Transitpapiere.

Auf russischer Seite ist die Grenze sehr ausgeprägt in Gegenwart von deutlich sichtbaren Militärs und wiederkehrenden Sicherheitsmaßnahmen, die teilweise auf ein zaristisches und sowjetisches Erbe zurückgehen.

Pascal Orcier — carte Sovietsk

Die russische Stadt Sowetsk/Tilsit am Njemen/an derMemel, ist eine alte preussische Stadt, früher eine Etappe auf der Strecke von Königsberg/Kaliningrad nach Sankt Petersburg. Sie war bis 1945 Grenzstadt des deutschen Reichs, und wurde es wieder 1991 für die russische Föderation. Wegen fehlender Wartung verfallen die Gebäude der ehemals deutschen Altstadt.

Pascal Orcier — photographie Sovietsk

Schild am Ufer des Njemen/der Memel, auf der russischen Seite (P. Orcier, 2008). "Achtung Grenzzone, Überquerung verboten". Der Flussstrand ist zugänglich und  im Sommer gut besucht. Auf der anderen Seite Litauen.

Pascal Orcier — photographie Sovietsk

Königin-Luise-Brücke in Sowetsk, am russischen Ufer (P. Orcier, 2008).

Der preussische Überrest aus dem 18. Jahrhundert markiert den Eintritt ins deutsche Reich, zu einer Zeit, als Russland sich ... auf der anderen Seite des Njemen/der Memel befand!

Pascal Orcier — photographie Flotte

Kriegsschiffe in Baltijsk/Pillau (Oblast Kaliningrad, Russland), P. Orcier, 2008.

 

 

Pascal Orcier — photographie marins de Kronstadt

Russische Matrosen in Kronstadt (Oblast Leningrad, Russland), P. Orcier, 2008.

Die Gegend von Sankt Petersburg beherbergt wichtige Militär- und Marineschulen und Garnisonen. Kronstadt, Militärstadt in der Nähe von Sankt Petersburg, steht dafür stolz als Symbol. Demgegenüber beherbergt Kaliningrad die russische Ostseeflotte sowie wichtige militärische Einrichtungen, mehr oder weniger einsatzbereit.

Pascal Orcier — photographie Kronstadt

Befestigte kleine Insel in Kronstadt vor Sankt Petersburg (P. Orcier, 2008).

Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts setzte sich Russland an den Ufern der Ostsee fest. Die Gründung von Sankt Petersburg unter [Pierre le Grand] Zar Peter dem Großen im Jahr 1701 veranlasste den Machthaber, die Küsten bis tief in den finnischen Meerbusen zu befestigen.

Pascal Orcier

La Russie a dû, après 1991, adapter son territoire à ses nouvelles frontières après l'indépendance de ses anciennes périphéries. Celles-ci n'étaient au départ pas protégées. En 2006, par décret présidentiel, les zones frontières dans lesquelles le FSB (ex-KGB) est chargé de la garde des frontières ont été élargies, passant de 5 km à 30 km depuis la frontière proprement dite. De vastes espaces se trouvent ainsi soustraits au contrôle des sociétés locales. L’étendue de la zone frontalière telle que définie par l'État russe a retrouvé peu ou prou ses dimensions de l’époque soviétique, soit près de 550 000 km², l’équivalent du territoire métropolitain français !

extrait de carte Vyborg

Kartenauszug zur Umgebung von Wyborg. Quelle: Karte Karelischer Isthmus, 2006, 1 : 160 000, Discus, St Petersburg.

Der Eintritt in die Grenzzone wird auf russischen Karten mit einem besonderen Symbol angezeigt, einer Hand (hier lila eingekreist). Vor Ort stehen am Straßenrand spezielle Schilder "border control area".

2.3. Die Grenze EU - Belarus

Pascal Orcier

Belarus, ein autoritär geführter Staat unter europäischen Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen, ist der verschlossenste Nachbarstaat der Europäischen Union, seit 1994 mit eiserner Faust von Alexander Lukaschenko regiert. Dem Nachbarn Russland zugewandt, sieht dieser Staat in der jüngsten Erweiterung von EU und NATO einen verdächtigen amerikanischen Aktivismus. Er befindet sich im Blickfeld seiner westlichen Nachbarn (Polen, Litauen und Lettland), welche dort ihre wirtschaftliche Präsenz vergrößern und den Handel mit diesem noch sehr verschlossenen Land intensivieren möchten. Immerhin haben sie eine gemeinsame Geschichte und eine 1081 km lange Grenze.

Pascal Orcier — photographie frontière Lituanie Biélorussie

Ehemalige Straße in der Nähe von Medininkai (Litauen), P. Orcier, 2008.

Hier in Medininkai, einer dünn besiedelten ländlichen Gegend Litauens, wurde die stillgelegte Straße schlicht und einfach gesperrt. Der Asphaltbelag wurde aufgebrochen und gibt den knapp unter der Oberfläche liegenden Sand frei : So können eventuelle Durchgangsversuche leicht verfolgt werden. Die beiden Grenzpfosten zeigen deutlich, dass sich diese Sicherheitsvorrichtung vollkommen auf litauischer Seite befindet. Der Grenzposten Medininkai ist auch eine Gedächtnisstätte für die Litauer in Erinnerung an die 1990/1991 auf Anordnung des sowjetischen Innenministeriums getöteten Wachtposten, welches sich diese Republik, die gerade ihre Unabhängigkeit erklärt und Grenzposten errichtet hatte, wieder aneignen wollte.

Pascal Orcier — photographie frontière Lituanie Biélorussie

Bahnlinie in Salcininkai (Liatauen) P. Orcier, 2008.

Etwas weiter südlich in Salcininkai sieht die alte Bahnlinie zwischen St. Petersburg und Warschau nur noch Güterzüge. Ihre Nutzung für internationalen Personenverkehr enstpricht nicht mehr den aktuellen Bedürfnissen der Bevölkerung, Grenzverlauf und  Visaregelung führten zu ihrer Aufgabe aus Investitionsmangel.

Pascal Orcier — photographie frontière Lituanie Biélorussie

Straße in Richtung Grenze nahe bei Druskininkai (Litauen) P. Orcier, 2008.

Im ehemaligen Thermalbad Druskininkai ist der frühere Bahnlinienanschluss nach Belarus verschwunden. Durch den Kiefernwald mit seinen alten heidnischen Kulten führen nunmehr Fahrradwege. Straßenschilder tragen den litauischen Namen der belorussischen Stadt Grodno kurz vor dem Eingangsschild in die Grenzzone (pasienio ruozas : Grenzabschnitt).

 

 

 

2.4. Die Grenze Eu - Ukraine

Die EU Grenze zur Ukraine besteht aus zwei Abschnitten, beiderseits von Moldau, und betrifft vier Staaten der EU: Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien. Die hauptsächlichen Grenzübergänge sind in Polen, mit dem die Ukraine historische Verbindungen unterhält. Hingegen gibt es keinen direkten Landübergang südlich von Moldau. Die von der Sowjetunion geerbten Energieinfrastrukturen sind im Innern konzentriert, in den Karpaten. Das ist auch der Teil der Grenze, in dem die intensivsten grenzübergreifenden Beziehungen zu beobachten sind, mit polnischen, ungarischen und rumänischen Sprachminderheiten auf ukrainischer Seite. Im südlichen Teil, beiderseits des Donaudeltas, leben pomakische und gagausische Minderheiten, die auch in Moldau angesiedelt sind.

Der Krieg hat seit 2022 viele Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht vor Kriegsschauplätzen in die Nachbarstaaten getrieben, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, die Flüchtingsstatus erhalten haben. Im Westen der Ukraine leben ebenfalls viele Vertriebene. Die NATO hat ihre Präsenz verstärkt und bildet ukrainische Soldaten aus.

2.5. Die Grenze EU-Moldau (Moldawien)

Pascal Orcier

 

Die Grenze EU-Moldau ist darin besonders, dass sie über 681 km vollständig einem einzigen Fluss folgt, dem Pruth. Ihre Länge erklärt sich großteils durch die vielen Schlingen dieses Wasserlaufs. Dies war die Grenze der UdSSR vor 1991, was die nach wie vor sichtbaren Spuren von Verteidigungsanlagen belegen: Wenige Kreuzungspunkte, Erhaltung des Auenwalds und wenig Bebauung an den Ufern des Pruth, schließlich das Vorhandensein einer Bahnlinie am Fluss entlang auf der moldawischen Seite zur Überwachung (siehe weiter unten eine ähnliche Anlage an der griechisch-türkischen Grenze). Die unterschiedliche Spurweite zwischen den ex-sowjetischen Bahnlinien der vorherigen Satellitenstaaten erfordert den Drehgestellwechsel an den Grenzbahnhöfen, verlängert dadurch die Reisezeiten, weswegen zunehmend Reisebusse bevorzugt werden. Rumänien, das seit mehreren Jahren nach Aufnahme in die Schengenzone strebt, wurden verstärkte Kontrollen auferlegt, während gleichzeitig der Gedanke an Wiedervereinigung mit Moldau (das von 1918 bis 1940 Teil Rumäniens war) noch seine Anhänger im Land hat. Die Grenze verläuft in einer sprachlich vereinheitlichten Zone. Übrigens heißt die rumänische Region mit der Kreisstadt Iasi Region Moldau. Die nach wie vor verbreitete Armut hat zur Ausweitung des Schmuggels geführt. Die natürliche Gestalt der Grenzlandschaft ermöglicht den Abwurf von mit Zigarettenstangen gefüllten Autoreifen von Moldau aus in den Fluss, die weiter stromabwärts auf rumänischer Seite abgefangen und dann von fliegenden Händlern weiterverkauft werden.

Pascal Orcier

Verlauf der rumänisch-moldawischen Grenze auf dem Pruth auf der Höhe von Iasi. Der Fluss hat sehr viele Schlingen, einige wurden nach Begradigung zu Feuchtgebieten.

Ganz im Süden, auf Höhe der Donau, befindet sich ein ungewöhnlicher Grenzübergang. Wegen der Breite des Stromes in seinem Mündungsgebiet wurde dort nämlich nie eine Brücke zur Verbindung von Ukraine und Rumänien gebaut. Züge und Fahrzeuge aus der Ukraine müssen zwei Kilometer moldawisches Gebiet durchfahren (das ist der symbolische Zugang des Landes zum Donaustrom). Konkret bedeutet das, dass die Fahrzeuge vier verschiedene Kontrollen in weniger als zwei Kilometern über sich ergehen lassen müssen. Die entsprechenden Verkehrsstaus in den Sommermonaten bringen den Händlern an dieser Strecke Vorteile, die ebenso gern ukrainische Hrywnja, rumänische und moldawische Leus sowie Euros als Zahlungsmittel annehmen (und je nach Inhalt ihrer Kasse Rückgeld geben). Die rumänische Polizei kontrolliert vor allem die ukrainischen und russischen Pässe, da einige ihrer Bürger den europäischen Sanktionen unterworfen sind. Es gibt mehrere Busverbindungen täglich zwischen Odessa und westlichen Zielorten.

 

3. Die EU Grenzen im Mittelmeer

3.1. Die Grenze EU-Türkei

Türkei und Bulgarien teilen eine lange und spannungsreiche Vergangenheit, welche die zögerliche Öffnung der gemeinsamen Grenze erklärt. Drei Jahrhunderte osmanischer Herrschaft haben das mittelalterliche bulgarische Königreich unterworfen und das Land, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts wieder aufbaute, dauerhaft geprägt. Mehrere Kriege ermöglichten es, die Osmanen bis an die heutige Grenze zu verdrängen (Vertrag von Lausanne, 1923). Danach wurde die bulgarisch-türkische Grenze zu einem Teil des Eisernen Vorhangs (1947-1991) und als solche verschlossen. Von der Wehrmacht 1944 hinterlassene Panzer waren dort sogar mit gegen den alten Feind ausgerichteten Geschützen vergraben worden und bis vor kurzem in Vergessenheit geblieben. Diese Zone wurde dem Wald überlassen. 2007 wurde sie zu einem Teil der EU-Außengrenze. Es ist der einzige Abschnitt des ehemaligen Eisernen Vorhangs, welcher zu einer Grenze der EU geworden ist.

Pascal Orcier

Die Landgrenze EU-Türkei ist 446 Kilometer lang, zu denen man einige hundert Seekilometer in der Ägäis hinzufügen muss (Griechenland und Türkei sind sich nicht einig über den Verlauf ihrer gemeinsamen Grenze), sowie offiziell die Grenze zwischen dem Norden Zyperns und der Türkei (72 km).

An der Schwarzmeerküste bildet das Dorf Rezovo den Schlusspunkt und damit eine Sackgasse mit einer Reihe von kleinen bulgarischen Badeorten.

Pascal Orcier — photographie frontière Bulgarie-Turquie

Ehemaliger Zugang zum Grenzstreifen von Rezovo. P. Orcier, Juli 2011.

Drei Kilometer zuvor sind ein erster Zaun mit Stacheldraht und ein ehemaliger Kontrollposten übriggeblieben. Das typische Balkandorf erhebt sich auf einem Felsvorsprung über der Mündung eines kleinen Grenzflusses.

Pascal Orcier — photographie frontière Bulgarie-Turquie

Blick auf den kleinen Grenzfluss. P. Orcier, Juli 2011.

Die Grenze wird konkret durch die beiden Flaggen auf den zwei Ufern angezeigt. Auf türkischer Seite erstreckt sich ein langer, menschenleerer Sandstrand, auf der bulgarischen Seite unterhalb des Dorfs können sich die Badenden nirgends sehr weit vom Ufer entfernen. Bojen markieren die Grenze entlang des verlängerten Talwegs.

Pascal Orcier — photographie frontière Bulgarie-Turquie

Blick auf das bulgarische Dorf Rezovo, P. Orcier, Juli 2011

Von der Türkei aus gesehen betont Bulgarien drei Symbole: eine orthodoxe Kirche, Quelle der nationalen Identität angesichts der früheren islamisch-türkischen Herrscher; eine europäische Flagge mit dem Stolz eines Staats, der seit kurzem in den "Club" aufgenommen wurde gegenüber einem Kandidaten, der noch eine Weile auf der Warteliste stehen wird; und ein Wachtturm, obwohl die militärische Drohung verschwunden ist und die Gegend nicht auf einer Migrationsroute liegt.

Pascal Orcier — photographie frontière Grèce-Turquie

"Remember Cyprus" (Denken Sie an Zypern). Straßenschild am Eingang von Alexandroupoli (Griechenland). P. Orcier, August 2002.

Auf griechischer Seite häufen sich die Hinweise auf das alte Bestreben, die Grenze zu überwachen. Die Bahnlinie von Alexandroupoli nach Bulgarien am Fluss Evros (bulgarisch Maritsa) entlang ist in schlechtem Zustand und kaum benutzt. In Stadtnähe, auf der Durchgangsstrecke für Türkei-Touristen, hauptsächlich Deutsche oder Türken, werden diese daran erinnert, welche Art von Beziehungen Griechenland mit dem Nachbarland pflegt. Man sieht darauf die Insel Zypern, deren blutgetränkte Nordhälfte an ihre Invasion und Besetzung seit 1974 durch die Türkei mahnt. Graffiti belegen, dass dieser Zustand als Provokation empfunden wird und weiterhin Nahrung für Ressentiments bietet. Die Karte dient hier ideologischen Zwecken.

Im Lauf der Jahre seit 2010 hat die Türkei im Zuge der Verschlechterung ihrer Beziehungen zur EU eine neue Doktrin für ihren Anspruch auf Seemacht entwickelt. Mavi Matan, "Blaue Heimat" nennt sie sich und stellt eine Art Revision des Vertrags von Lausanne dar, welcher 1923 die Landesgrenzen festlegte, und ist damit ein Regelverstoß gegen das Übereinkommen von Montego Bay (welches die Türkei nicht unterzeichnet hat). Als beträchtliche Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer gefunden wurden und die Regel der Äquidistanz in der Ägäis zur Küste des Kontinents angewandt wurde, erhob die Türkei Anspruch auf ausgedehnte Hoheitsgewässer. Diese Forderungen wurden unabhängig von griechischer Souveränität über die Inseln in der Ägäis und der vorher gemeinsam festgelegten Begrenzungen in entsprechenden Abkommen gestellt. Mit der lybischen Regierung von Bengasi hat die Türkei 2019 ein solches Abkommen über Abgrenzungen geschlossen, das von Ägypten und Griechenland abgelehnt wurde. Seither haben einschüchternde Manöver von türkischen Kriegsschiffen gegen Fischkutter und U-Boote zur Meereserkundung stattgefunden, während die Durchfahrt von Migranten in Richtung griechische Inseln mit ihren hot spots für die EU Friktionen verursacht.

Die Hoheitsansprüche der Türkei im Mittelmeer

Pascal Orcier, 2023.

3.2. Die de facto Grenze EU-Türkische Republik Nordzypern

 

Besonders an Zypern ist, dass es vier klar unterschiedene politische Einheiten umfasst: die Republik Zypern, die Türkische Republik Nordzypern (selbst ausgerufen und nicht international anerkannt), die Pufferzone und die britischen Militärstützpunkte Akrotiri und Dekelia. Trotz Brexit ist die Grenze zwischen letzteren und der Republik Zypern offen. Sie bietet ein paar Kuriositäten: So durchquert die Autobahn A6 von Paphos nach Limassol zweimal das Hoheitsgebiet von Akrotiri und Dekelia. Straßenschilder und Geschwindigkeitsbegrenzungen sind in miles angegeben, und das Satelliten-Navigations-System erkennt genau die unsichtbare Grenze zwischen Zypern und dem Vereinigten Königreich in der Landschaft! Auf dem Gebiet von Dekelia befinden sich im britischen Sektor mehrere zyprische Enklaven, und es besteht selbst aus zwei unterschiedenen Teilen (Dekelia und Agios Nikolaos, deren Verbindung durch einen schmalen Landstreifen und der Straße E303 sichergestellt ist ...), und welche selbst die Grenze zwischen Zypern und der türkischen Zone repräsentiert. Dies erklärt die Länge der Grenze zwischen Zypern und dem Vereinigten Königreich, 152 km, trotz der bescheidenen Fläche dieser Gebiete: 254 km², das ist kaum mehr als die Fläche der Stadt Marseille. Zwei Grenzübergänge verbinden die britische und die türkische Zone (Pergamos und Strovlilia). Die Pufferzone der UNO, bewohnt und bis zu 5 km breit, ist hingegen unterbrochen. So existieren verschiedene Arten von Grenzen auf der Insel, seien sie nun offiziell oder de facto, konkret sichtbar oder nicht.

Grenzen und Pufferzonen im Osten Zyperns

dhekelia

 

Seit 1974 ist die Insel durch die "Grüne Linie" in zwei geteilt. Diese Demarkationslinie und Pufferzone trennt die Südzone, unter Kontrolle der legalen Republik Zypern, von der von der Türkei besetzten und selbst ausgerufenen türkischen Republik von Nordzypern. Die Grüne Linie erstreckt sich von Osten nach Westen, mit einer stellenweise bis zu mehreren hundert Meter breiten Pufferzone. Die UNO-Mission UNFICYP ist auf diesem Gebiet im Einsatz. Die Demarkationslinie war von 1974 bis 2002 für allen Verkehr gesperrt. 2003 öffnete der erste Grenzübergang, ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer, dann kamen vier weitere dazu im Jahr 2005, diesmal auch für Autos. Im November 2018 wurden ein achter und neunter Grenzübergang geöffnet.

In der Hauptstadt Nikosia ist der Grenzübergang der Ledra-Straße nur Fußgängern zugänglich (vgl. Foto unten). In den angrenzenden Straßen finden sich unterschiedliche Zäune und Mauern.

point de passage ledra

Grenzübergang für Fußgänger in der Ledra-Straße im Zentrum von Nikosia. Bildnachweis: S. Bérenguier und N. Segura, Oktober 2022.

panneaux

Der Kontrollposten (oben links) sieht ein bisschen wie ein Verkaufsstand aus, die Schilder in drei Sprachen korrigieren diesen Eindruck jedoch. Man nennt dies hier "Kontrollposten", da das Wort "Grenzposten" implizit die Existenz einer Grenze anerkennen würde. Direkt nebendran befindet sich ein Geldwechselbüro, da im Norden das türkische Pfund, im Süden der Euro Kurs hat. Die Passkontrolle findet je im griechischen und im türkischen Kontrollposten statt. Um die Mittagszeit ist mehr Betrieb. Autos müssen durch den 3 km westlich des Stadtzentrums liegenden Grenzübergang. Diesen können Mietfahrzeuge nicht immer benutzen, außer mit einer am Kontrollposten erhältlichen Zusatzversicherung, was nicht unbedingt zu Tagesausflügen ermutigt.

Auf den Hinweisschildern (oben rechts) findet man die in Flughäfen und Grenzposten üblichen Informationen, insbesondere, was Produktfälschungen betrifft. Auf der linken Seite fallen kleine Aufkleber auf - diese sind nicht offiziell - mit den Namen von mehreren ehemals von Griechen bewohnten Ortschaften im Norden der Insel, die seit 1974 von der türkischen Armee besetzt sind: Melounta, Morfou und Akantou.

rue barrée à Nicosie

In Nikosia ist die Trennung im Stadtzentrum durch Mauern wie diese sichtbar. Oben links kann man auf Griechisch den Slogan "Befreiung! Wacht auf!" lesen, welcher die türkische Besetzung und Kolonisierung im Norden anprangert. Auf dem Foto rechts erscheint die Trennung als ein Raum zum Ausdruck von Identität: Hier ist keine Mauer, sondern eine Barrikade aus zwei Reihen Fässern in den Farben Griechenlands. Das große Hinweisschild daneben verweist auf die EU-Finanzierung der Renovierung des Stadtteils.

Bildnachweis: S. Bérenguier und N. Segura, Oktober 2022.

rue barrée coté grec
rue barree

rue barrée cote turc

(Foto oben Mitte) Auf türkischer Seite,  mit dem Straßenschild im lateinischen Alfabet, ein weiterer ehemals gesperrter Übergang. 

Bildnachweis: S. Bérenguier und N. Segura, Oktober 2022.

rue barrée cote turc

(Foto oben rechts) Die türkische Fahne weht am Ende dieser Sackgasse mit dem Metallzaun. Auf türkischer Seite gibt es mehr Läden, die Preise sind dort in Euros ausgeschrieben. Die Anwohner sind in ihrem Alltag pragmatisch: griechische Zyprer überqueren die Grenze, um die attraktiveren Preise der Lebensmittel und der Restaurants zu nutzen, dort ist auch täglich Markt. Von der anderen Seite überqueren angeblich 5000 Arbeitskräfte täglich die Grenze von Norden nach Süden.

Bildnachweis: S. Bérenguier und N. Segura, Oktober 2022.

Von der türkischen Seite aus gesehen (Foto oben links) ist diese Straße durch eine mit Stacheldraht versehene Betonmauer abgeriegelt. Dahinter wehen, gut sichtbar, die griechische und die zyprische Fahne von einem Mast. Viele Häuser sind unbewohnt. Die verzierten Türrahmen aus behauenem Stein erinnern an vergangene Größe und  einen gewissen Wohlstand der ehemaligen Bewohner. Dieses Erbe ist heute bedroht.

Bildnachweis: S. Bérenguier und N. Segura, Oktober 2022

3.3. Die Grenze Europäische Union - Marokko

Zwischen der EU und Marokko verläuft die Grenze, häufig im Gegensatz zu Hinweisen auf den Karten, nicht in Äquidistanz zwischen den Mittelmeerküsten, und zwar wegen der beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Seit dem 15. Jahrhundert unter spanischer Vorherrschaft, bildet jede von ihnen eine eigenständige Gemeinde im Königreich. Dazu kommen mehrere, spanisch gebliebene Inselgruppen, oft ganz nah an der marokkanischen Küste, deren Zugehörigkeit zu Spanien in die Zeit vor dem Protektorat zurückreicht. Alle diese Gebiete werden nun von Marokko beansprucht. Die Landgrenze zwischen den beiden Enklaven und Marokko misst 15,9 km und geht auf die Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956 zurück.

Pascal Orcier

Zwar ist der Lebensstandard in Ceuta und Melilla der niedrigste in Spanien, jedoch stellen sie Wohlstandsinseln und eine Eingangspforte nach Europa dar, sowohl für Marokkaner, welche dorthin reisen, um aller Art steuerfreie Produkte zu attraktiven Preisen zu kaufen (beide Städte sind Freihäfen, welche nicht zur europäischen Zollunion gehören), um sie dann in Marokko weiterzuverkaufen, als auch Migranten aus der Sub-Sahara, die versuchen, dort einzureisen. Diese Situation war der Anlass zur Errichtung und Verstärkung von Zäunen und komplexen Sicherheitsvorrichtungen. Eine andere Grenze, diesmal im Meer, trennt Marokko von den Kanarischen Inseln, welche einen weiteren Zugang für Migranten zum europäischen Eldorado darstellen und deswegen ebenfalls streng überwacht werden.

Pascal Orcier — photographie plaque Nador

Marokkanisches Straßenschild in Nador. P. Orcier, 2015.

Interessant, wie sich zwei marokkanische Städte, Tanger und Nador, auch im Bild als "Pforte zu Europa" präsentieren.

Pascal Orcier — photographie Mellila

Busbahnhof Nador (Marokko). P. Orcier, 2015.

Waren (hier Decken) aus Melilla (Spanien) werden in den Gepäckräumen der Überlandbusse von Nador in andere Städte Marokkos transportiert.

Pascal Orcier — photographie Ceuta

Eingang in die Stadtenklave Ceuta (Spanien). P. Orcier, 2010.

Doppelzaun, Stacheldraht, eine breite Fahrbahn für die spanischen Patroullien: In diese Grenze haben Spanien und die EU sehr viel für Sicherheitsanlagen investiert. Auf marokkanischer Seite erscheint die Stadt unter dem Namen Sebta, ohne Erwähnung der umstrittenen Grenze.

Pascal Orcier — photographie Ceuta

Stadtzentrum von Ceuta (Spanien). P. Orcier, 2010.

Sobald man die Zäune und Lagerhallen hinter sich gelassen hat, präsentiert sich Ceuta als "typisch" spanische Stadt mit einem mediterranen Badeort-Ambiente unter der hochgelegenen Festung des 16. Jahrhunderts: Straße der katholischen Könige, Cervantes-Platz ...

Pascal Orcier — photographie gare

Kopfbahnhof in Beni Anzar (Marokko). P. Orcier, 2015.

Der Bahnhof von Beni Anzar ist die Endstation des marokkanischen Eisenbahnnetzes kurz vor Melilla. Der ehemalige Brückenkopf der spanischen Kolonialisierung Marokkos hat keine Bahnverbindung mehr mit Marokko, die Schienen wurden am Ende des spanischen Protektorats 1956 entfernt.

Pascal Orcier — photographie gare

Grenzübergang Melilla (Spanien), P. Orcier, 2015.

 

Autoschlange am Grenzübergang Melilla. Es sind die hohen blauen Zäune zu sehen, welche den Zugang versperren, sowie die starke Beleuchtung. Beide Länder sind gleichermaßen bewohnt, und so gibt es ständige Übergänge in beide Richtungen, zu Fuß und per Auto.

Pascal Orcier — photographie files d'attente

Eingang nach Melilla, P. Orcier, 2015.

Am Eingang von Melilla sind über die ersten paar hundert Meter zahlreiche Marokkaner zwischen Läden und Lagerstätten eifrig beschäftigt. Frauen warten, unter der Last von riesigen Säcken auf dem Rücken, auf die Rückkehr nach Marokko.

Pascal Orcier — photographie Alhoceima

Die kleine Insel Al Hoceïma, P. Orcier, 2015

Die kleine Insel Al Hoceïma, ein paar Dutzend Meter vom Strand entfernt. Die auf die Festungsmauern gemalten spanischen Flaggen erinnern an die unsichtbare Grenze, wie auch die tatsächlichen spanischen Fahnen auf den nahen Inselchen, deren Zutritt verboten ist. Diese Zeichen der Souveränität werden von Marokko als Provokation empfunden.

Pascal Orcier — photographie chaffarines

Chafarineninseln, P. Orcier, 2015.

Zwischen Nador und Saïdia befinden sich die Chafarineninseln, die lediglich von einer spanischen Garnison bevölkert sind. Es sind die letzten Konfetti, um die sich beide Länder streiten. Sie sind von Ras El Ma zu beobachten.

Gibraltar

Pascal Orcier — Gibraltar

Pascal Orcier — photographie gibraltar

Südspitze des Hoheitsgebiets von Gibraltar (Vereinigtes Königreich), P. Orcier, 2016.

Gibraltar gehörte bis zum 31. Januar 2020 zur EU, jedoch nicht zu Zollunion und Schengengebiet. Es galt dort eine Sonderregelung, welche dieses winzige Gebiet ohne natürliche Ressourcen wirtschaftlich sehr attraktiv gemacht hat. Auf diesem Foto sind drei Symbole vereint. Der Fels von Gibraltar im Hintergrund ist physisch einer der äußersten Punkte des europäischen Kontinents. Mit seiner leicht erkennbaren Form ist er gut von weitem zu sehen und markiert den Eingang des Mittelmeers. Im Vordergrund weht der Union Jack, der daran erinnert, dass Gibraltar seit dem Frieden von Utrecht (1713) britisches Hoheitsgebiet ist und das bleiben will trotz der wiederholten Anfragen Spaniens. Im Mittelgrund steht die Moschee, mit Blick aufs Meer, von Saudi-Arabien finanziert, eine Erinnerung an den arabischen Ursprung des Namens Gibraltar, an die mittelalterliche Ausdehnung des Islam und die Nähe des Maghreb.

 

4. Die Grenzen im Balkan

4.1. Die Grenze EU - Albanien

Pascal Orcier — Korfu  

Die Grenze zwischen EU und Albanien übernimmt einen Teilabschnitt des Eisernen Vorhangs. Im Gegensatz zum jugoslawischen Nachbarn, dessen Grenzen während des Kalten Kriegs für Touristenströme und zur Emigration in den Westen offen blieben, wählte Albanien damals die Autarkie. Sein Führer Enver Hodscha regierte Albanien mit eiserner Faust. 1948 brach er mit der Sowjetunion und verwandelte das Land in eine Festung im Belagerungszustand. Deswegen sind Zufahrten auf dem Landweg, Straßen und Bahnlinien selten geblieben, und der Zugang übers Meer wurde streng bewacht. Der Norden der griechischen Insel Korfu (Kerkyra) ist nur zwei Kilometer von der albanischen Küste entfernt, und Albaniens Berge sind von der gesamten Insel aus gut zu sehen. Korfus Grenzlage ist nicht neu, denn es war zunächst venezianischer Handelskontor gegenüber den Osmanen, wovon noch die beeindruckende Zitadelle über der Altstadt zeugt. Es sind einige Kapellen und eine katholische Gemeinde erhalten, in einem überwiegend orthodoxen Griechenland. Die Insel war auch einmal Französisch, danach britisch, und wurde 1923 von Italien besetzt. Ein Vorfall in der Meerenge von Korfu hat 1946 zu einem Konflikt zwischen britischen und albanischen Truppen geführt, als ein erstes Anzeichen des heraufziehenden Kalten Kriegs.

Pascal Orcier — photographie frontière Corfou Grèce Albanie

Die albanische Küste, von Kalami aus gesehen. Wenig mehr als zwei Kilometer trennen die albanische Küste von der griechischen Insel Korfu. Die Meerenge dazwischen ist eine strategische Durchfahrt. Bildnachweis P. Orcier, 2016.

Pascal Orcier — photographie frontière Corfou Grèce Albanie

Die Zitadelle von Korfu, erst byzantinisch, dann venezianisch. Eine neue Zitadelle kam im 16. und 17. Jahrhundert dazu, zwischen zwei osmanischen Angriffen. Bildnachweis P. Orcier, 2016.

Eine tägliche Seeverkehrsroute verbindet Korfu und Saranda, den nächsten albanischen Hafen. Um Nissaki kann man sogar das albanische Telefonnetz empfangen. Jedoch aufgepasst, falls man es aus Versehen benutzt: teures Roaming! Bis vor kurzem ist die albanische Küste von touristischen Bauten verschont geblieben.

4.2. Die Grenze EU - Bosnien und Herzegowina

Die Grenze EU - Bosnien und Herzegowina ist die jüngste, sie besteht seit 2013, Zeitpunkt der Aufnahme Kroatiens in die EU. Die Grenze selbst ist recht neu: Sie stammt von 1991, nachdem sie einige Jahrzehnte lang nichts als eine einfache interne Verwaltungsgrenze innerhalb Jugoslawiens gewesen war. Sie hatte jedoch ältere Grenzlinien des Reichs, auch religiösen Ursprungs, übernommen, welche Ende des 17. Jahrhunderts zwischen Österreich, der Republik Venedig und der Republik von Raguse (Dubrownik) einerseits und dem osmanischen Reich andererseits festgelegt worden waren. In der Tat hat das osmanische Reich mit dem Frieden von Karlowitz 1699 wichtige europäische Gebiete verloren, darunter Ungarn und das heutige Kroatien. Bosnien war zwei Jahrhunderte lang der westliche Brückenkopf des osmanischen Reichs in Europa, gegen die christlichen Mächte. So überließ Raguse den Osmanen die Stadt Neum, nicht etwa, um ihnen einen Zugang zur Adria zu sichern, sondern um eine Pufferzone gegen venezianische Besitzungen zu schaffen (Venedig war damals sehr an Raguse interessiert).

Diese umstrittenen Gebiete wurden immer wieder neu besiedelt, was ihre menschliche Vielfalt erhöht hat. Das ist überhaupt typisch für die Entwicklung an Reichsgrenzen. Österreich hatte dort eine serbische Bevölkerung orthodoxen Glaubens angesiedelt, genau in den militärischen Randzonen, dem "Krajina" genannten Grenzgebiet ("Krajina" bedeutet in den slawischen Sprachen "Grenzgebiet", gleichen Urpsrungs wie Ukrajina, das zu Ukraine wurde), mit der Aufgabe, die Sicherheit dieser Grenze zu garantieren. Die Lage änderte sich auch nicht, als Österreich 1797 die venezianischen Gebiete übernahm. Erst als 1878 Bosnien unter österreichische Verwaltung kam, gefolgt von der glatten Annexion 1908, veränderten sich die Machtverhältnisse auf der politischen Bühne für die folgenden Jahrzehnte. Die Grenze verschwand während des ersten jugoslawischen Staats 1919-1941. Nach 1945 hatte Tito die Grenzen der Republiken neu festgelegt, aus denen sich nunmehr Jugoslawien konstituieren sollte, und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Bevölkerungsgruppen. So hatte er die Kroaten bevorzugt, indem er ihnen die gesamte dalmatische Küste mit Ausnahme der Stadt Neum zuteilte, letztere sicherte symbolisch einen Zugang zum Meer. Er fügte außerdem die Gegend von Mostar zu Bosnien, obwohl es mehrheitlich von Kroaten besiedelt war. Während des bosnischen Kriegs (1993-1995) riefen diese die Republik von Herzeg-Bosna aus, die nicht anerkannt wurde, und wünschten, an das unabhängige Kroatien angeschlossen zu werden. Der Krieg führte zu Massakern an der islamischen Bevölkerung.

Auf lange Sicht hat diese Grenze ihre Spuren in den Vorstellungswelten und menschlichen Lebensbedingungen der Anrainergebiete hinterlassen. Auch heute noch markiert sie auf religiöser Ebene die Unterscheidung zwischen den stark katholisch geprägten Gebieten in Kroatien gegenüber dem Islam in Bosnien. Die in manchen Regionen immer stärker überwiegende serbische Bevölkerung hat die Spaltung von Kroatien hervorgerufen, welches 1991 unabhängig geworden war, und so entstand eine serbische Republik Krajina. Diese wurde von den kroatischen Streitkräften 1995 in der Operation Sturm (Oluja auf kroatisch) zurückerobert.

Die Grenze EU – Bosnien und Herzegowina

Pascal Orcier

 

Pascal Orcier — photographie forteresse de Knin

Die Festung Knin. Bildnachweis: P. Orcier, 2018.

Die Festung Knin, von den Osmanen erbaut, wurde anschließend von den Venezianern umgebaut und vergrößert, woran der stolz am Eingangstor thronende Löwe erinnert.

Das Museum in der Festung ist eine stark nationalistisch geprägte Gedenkstätte zum Ruhm der Befreier von 1995. Dort erscheint General Ante Gotowina, der erst vom Internationalen Strafgerichtshof von Den Haag 2011 für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und schließlich 2012 freigesprochen wurde. Es wurde auch eine Statue des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman errichtet. Die Einnahme Knins sicherte dem Land die Kontrolle des wichtigen Eisenbahnknotenpunkts auf der Strecke Zagreb-Split und damit seine territoriale Kontinuität. Diese Bahnlinie wird übrigens auf Plakaten im Zug als "Zug der Freiheit" (Vlak slobode auf kroatisch) bezeichnet.

Pascal Orcier — photographie panneau metkovik

Diese bescheidene Bahnlinie folgt der Achse des Neretwa-Tals und gewährleistet auf diese Weise die Verbindung der dalmatischen Küste mit dem Innern der Herzegowina. Sie ist jedoch am Wochenende regelmäßig voll ausgelastet mit Bosniern, die es an die kroatische Küste zieht. Die kroatischen Kontrollen sind dabei besonders penibel, wohl um den Anforderungen der EU mit Blick auf die geplante Aufnahme des Landes in den Schengenraum zu entsprechen.

Pascal Orcier — photographie ploce

Güterzug auf der Strecke Ploče-Mostar. Bildnachweis: Pascal Orcier, 2018.

Ploče in Kroatien ist ein Industrie- und Handelshafen zwischen den Rivieras von Makarska und Dubrovnik und ist mit der Agrarebene des Neretwa-Deltas verbunden. Er ist Freihandelszone für den Güterverkehr nach Bosnien, welches selbst keinen Tiefwasserhafen auf seinem Hoheitsgebiet besitzt. Eine Schnellstraße verbindet ihn mit der kroatischen Autobahn A1, welche dann als Bundesstraße in Bosnien zum Pilgerzentrum Medjugorje führt. Eine weitere durchquerende Strecke folgt dem Neretwa-Tal. Ein erste Bahnlinie war dort unter österreichischer Verwaltung zwischen 1885 und 1890 gebaut worden, um Sarajewo mit der Adria zu verbinden. Die heutige Linie entstand Anfang der 1960er Jahre. Wegen des Bevölkerungsrückgangs und der Verstärkung der Grenze nach der Unabhängigkeit war der Personenverkehr auf kroatischer Seite aufgegeben worden und besteht nur noch auf bosnischer Seite ab Čapljina. Güterzüge jedoch verkehren nach wie vor zwischen beiden Ländern.

Pascal Orcier

Bosnien besitzt nur einen zehn Kilometer langen Küstenstreifen, der das kroatische Hoheitsgebiet in zwei teilt. Die von Touristen sehr besuchte Gegend von Dubrovnik ist auf einer Straße zu erreichen, die die bosnische Stadt Neum durchquert. Letztere wurde im Lauf der Jahre zu einem riesigen Supermarkt, einem nicht zu umgehenden Halt für Überlandbusse und Durchreisende, die das Preisgefälle nutzen. Da Bosnien nicht zur WTO gehört und auch nicht den gemeinsamen Regelungen der EU unterworfen ist, gilt dort eine MWSt von nur 17 % (gegen 22 % in Kroatien). Kroatien hat 2007 ein umstrittenes Brückenprojekt lanciert, dessen Bau über einen Meeresarm seinem Gebiet Kontinuität und die Straßenverbindung mit der sonst abgesonderten Halbinsel Pelješac sichern würde. Bosnien ist dagegen, mit dem Argument, dass dadurch Kroatien de facto die Kontrolle über seinen Seeverkehr erhalten würde. Beide Länder streiten auch um die Grenzlinie im Meer in besagtem Meeresarm und um die Souveränität der Inselchen Veli Skoj und Mali Skoj. Die Brückenbauarbeiten wurden 2012 wegen der Wirtschaftskrise ausgesetzt, dann aber 2017 wiederaufgenommen. Die Europäische Gemeinschaft hatte das Projekt zu 85 % zu finanzieren, und es wurde ein chinesisches Konsortium bestimmt, den Bau durchzuführen und 2022 abzuschließen.

4.3. Die Grenze EU- Serbien

Die EU hat seit 2004 eine Grenze mit Serbien, welche sich 2007 und 2013 verlängert hat. Da die Aufnahme der westbalkanischen Staaten in die Gemeinschaft nur eine Frage der Zeit ist, hat diese Grenze eher einen provisorischen Status, Serbiens Eintritt ist zum Beispiel innerhalb der nächsten zehn Jahre geplant. Während die ungarischen, rumänischen und bulgarischen Teilabschnitte dieser Grenze auf 1918 zurückgehen, ist die Grenze Kroatien-Serbien erst seit 1991 gezogen. Als ehemalige Trennlinie zwischen zwei jugoslawischen Republiken war sie eine Front zwischen der von den Serben dominierten jugoslawischen Armee und den kroatischen Streitkräften. Sie wird von den Serben verneint, denen daran liegt, die Gebiete jenseits der Linie zu behalten, umso mehr, als Ostslawonien mehrheitlich von Serben bevölkert ist. Sie wurde so zu einem der militärischen Ziele für die Kroaten, denen es darum geht, ihre volle Souveränität auf dem gesamten Gebiet der ehemaligen vereinten Republik Kroatien auszuüben. Die Zerstörung von Vukovar wurde zu einem Symbol der gewaltsamen Kämpfe, seine Bevölkerung musste massenweise Zuflucht in Serbien suchen.

Grenze Kroatien-Serbien

Pascal Orcier

Inzwischen ist zwar Frieden eingezogen und eine bilaterale Zusammenarbeit entstanden, die Grenzfrage ist jedoch nach wie vor nicht vollständig geregelt. Es besteht immer noch an mehreren Orten eine Auseinandersetzung um den Grenzverlauf wegen der historischen Veränderungen des Donauflusses, da dieser in weiten Teilen die Grenze bildet. In der Tat sieht das pragmatische Serbien den Talweg als Grenze an. Kroatien beruft sich auf ältere Verläufe, aus einer Zeit, als der Strom heute verschwundene Schleifen beschrieb, was in seiner Sicht die kroatische Hoheit über ganz kleine Grundstücke auf der linken Uferseite rechtfertigt… und nach dem gleichen Prinzip keinerlei Ansprüche auf ähnliche Grundstücke auf der rechten Uferseite erhebt. Daraus ergibt sich die Existenz von Mikrostaaten, auf die keines der beiden Länder Anspruch erhebt (res nullius), und auf deren Grund ungewöhnliche Republiken ausgerufen worden sind. Auch der Status von einigen Flussinseln ist umstritten. Südlich der Grenze befinden sich zudem ein paar Grundstücke, die in den 1950er Jahren zwischen beiden Republiken ausgetauscht worden waren, jedoch ohne rechtliche Bestätigung geblieben sind und deswegen ebenfalls Zankäpfel darstellen...

4.4. Die Grenze EU – Montenegro

Sie ist die kürzeste Landgrenze der kontinentalen EU mit einem Nachbarstaat, 25 km lang, und sie führt in die Meeresbucht bis zur Stadt Kotor. Sie war Frontlinie während der jugoslawischen Kriege von 1991 bis 1995, als Montenegro innerhalb der jugoslawischen Federation auf serbischer Seite war. Die Grenzführung blieb bis zum Abkommen zwischen den beiden Staaten im Jahr 2002 umstritten, welches für dieses Gebiet eine Demilitarisierung vorsah. In der Tat sicherte das Seerechtsübereinkommen Kroatien mit dem Besitz der Halbinsel Prevlaka de facto die Kontrolle des Zugangs zur Bucht von Kotor, welche die Binnengewässer von Montenegro bildet und damit auch der ein- und ausgehenden Ströme. Eine UNO-Mission war im Zeitraum bis zum Abschluss des Abkommens 2002 zur Stelle. Heute sind beide Staaten Mitglieder der NATO. Dieses Gebiet stellte schon in der Vergangenheit eine Grenze zwischen den venezianischen, osmanischen und dann österreichischen Besitzungen dar mit der Bildung eines Korridors, welcher dem Binnenstaat Bosnien einen Zugang zum Meer verschaffte, und zwar im Bereich der montenegrinischen Stadt Herceg Novi. Diese wurde lokal zu einer touristischen Hochburg, da für die Bosnier dort der Grenzübergang einfacher war als über die Grenze mit Kroatien, das 2013 Mitglied der EU geworden war und den Zutritt zum Schengenraum anstrebte (im Jahr 2023 in Kraft getreten). Der einzige Straßenübergang zwischen Kroatien und Montenegro besteht im Endabschnitt der “Magistrale”, dieser mehrere hundert Kilometer langen Küstenstraße Dalmatiens, die von Rijeka im Norden bis hierher führt. Diese Straße wurde auf Initiative der Franzosen gebaut, nachdem Napoleon die vorher österreichischen “illyrischen Provinzen” annektiert hatte, von 1809 bis 1815.

 
 

5. Die Grenzen in Westeuropa

5.1. Die Grenze EU – Vereinigtes Königreich

Pascal Orcier

Die Grenze zwischen EU und dem Vereinigten Königreich besteht aus einem langgestreckten Meeresabschnitt in der Nordsee, der Ende der 1960er Jahre entlang einer Linie in gleichem Abstand verläuft, ebenso im Ärmelkanal, wo zudem die Kanalinseln einbezogen wurden. Das französisch-britische Grenzübereinkommen  ist Gegenstand des Vertrags von Canterbury 1986, notwendiges Vorspiel zum Bau des Eurotunnels, der 1994 in Betrieb genommen wurde, und dessen Abschnitte sich nicht außerhalb der nationalen Hoheitsgewalten befinden durften. Bis dahin hatte sich das traditionell der Freiheit der Meere verbundene Vereinigte Königreich auf Hoheitsgewässer innerhalb einer Dreimeilenzone begnügt, wohingegen Frankreich die Linie in gleicher Entfernung vorzog, welche ein Hochseegebiet zwischen der Meerenge von Calais und dem Atlantik mit sich brachte. Dennoch ist es Frankreich, das im Zuge der Abkommen von Le Touquet 2002 die Grenze oberhalb des Tunnels und im Bereich der Fährterminals verwaltet. Seit etwa zwanzig Jahren wurde der Ärmelkanal zu einer Durchgangsstation für Migranten auf dem Weg nach England. Verstärkung der Kontrollen, Errichtung von Grenzzäunen und Überwachungskameras führten dazu, dass diese Migranten immer höhere Risiken auf sich nehmen, um das andere Ufer zu erreichen. Provisorische Lager entstehen immer wieder an verschiedenen Stellen der französischen Nordküste und werden durch die Behörden abgebaut. Die Auflösung des “Dschungels von Calais” im Jahr 2015, in dem damals mehrere tausend Migranten untergekommen waren, wurde damals in hohem Maße mediatisiert, ohne dass dies zu einer dauerhaften Lösung beigetragen hätte. Schleppernetzwerke sind am Werk, die Überquerung der Meerenge von Calais hat Dramen mit sich gebracht, von Leichnamen in versiegelten Lastwägen zu zahllosen Ertrunkenen. Frankreich hat seine Mittel für die Sicherheit auf dem Meer verstärkt, die Zahl der entdeckten Migranten auf dem Wasser ist jedoch trotz der abwehrenden Maßnahmen im Vorfeld und der Information an die betroffenen Personen angestiegen.

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Landeklappen zur Einschiffung, Fährterminal Dover. Bildnachweis : Pascal Orcier, April 2023.

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Abfahrtszeiten und Ziele der Fähren ab Dover. Bildnachweis : Pascal Orcier, April 2023.

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Blick auf die Parkplätze und den Fährterminal von Dover. Die berühmten Kreidefelsen im Hintergrund. Bildnachweis : Pascal Orcier, April 2023.

Die Kanalinseln

Die Kanalinseln sind eine kleine historische und rechtliche Kuriosität. Sie bestehen aus den Hauptinseln Jersey, Guernsey, Sark und Alderney, unterstehen direkt dem britischen Königshaus, und sie gehören nicht zum Vereinigten Königreich. Sie waren nie Teil der EU, ebensowenig wie die Insel Man in der Irischen See. 160 000 Einwohner leben auf diesen Kanalinseln, welche als Steuerparadiese gelten oder zumindest als offshore Finanzzentren. Fischfang hat dort Tradition. Die Abkommen von Granville 2002 hatten Fischereizonen definiert, mit festgelegten Fangvolumen und einer bestimmten Anzahl von Lizenzen für die französischen Fischer. Die Brexit-Regelungen von 2019, welche alle vorherigen Abmachungen ersetzten, haben die Spannungen zwischen den Fachkräften neu entfacht und das Eingreifen der britischen Marine hervorgerufen.

5.2. Die Grenze EU – Monaco

Pascal Orcier Pascal Orcier

Es ist eine ganz besondere Grenze, da sie gleichzeitig offen ist, sich in einem Stadtgebiet befindet, dabei sichtbar und auch unscharf ist. Das Fürstentum Monaco ist vom französischen Département Alpes-Maritimes umschlossen, seine kommunalen Grenzen sind die Gemeinden Cap d’Ail und La Turbie im Westen, Beausoleil im Norden und Roquebrune-Cap-Martin im Nordosten, und alles bildet ein zusammenhängendes Stadtgebiet. Das Fürstentum bildet das Zentrum eines grenzübergreifenden Beschäftigungsgebiets, das sehr von seiner hohen Attraktivität profitiert, besonders in den Wirtschaftszweigen Tourismus und Luxusgüter, aber auch im Banken- und Finanzbereich, sowie in einem weitgefächerten Eventsektor und der High-Tech-Branche.

Der Zugang zum Fürstentum ist zwar deutlich sichtbar mit seinen Flaggen und Hinweisschildern, setzt sich dann aber unterirdisch in einer Vielzahl von Durchfahrten fort, sowohl per Schiene als auch mit der Autobahnausfahrt Richtung Nizza. Die Zunahme der Straßenverkehrsströme hat mit der erhöhten Umweltbelastung auf einem räumlich äußerst beengten Gebiet das Fürstentum dazu veranlasst, in den 2000er Jahren umfangreiche Infrastrukturprojekte anzugehen, um den zur Verfügung stehenden Raum optimal zu nutzen. Diese Vorhaben verbanden sich mit Arbeiten zur Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen und den zunehmenden Umweltdiskussionen.

Der Zugang zu Monaco findet nunmehr hauptsächlich durch die Tunnel statt. Die physischen Bedingungen (steile Abhänge) und die Ausmaße des Gebiets (das kaum breiter als 500 m ist) stellten technische Herausforderungen dar, die dadurch gelöst wurden, dass diese Tunnel teils auf französischem, teils auf monegassischem Gebiet gebaut wurden. Die Grenzschilder befinden sich somit unter der Erde. Der Tunnel zum Beispiel, der von der Autobahn abzweigt, hat jeweils seinen Eingang und seinen Ausgang in Monaco, beschreibt dann jedoch unterirdisch eine Kreisbahn auf französischem Gebiet und wurde deswegen Gegenstand eines bilateralen Abkommens. Die Lage ist etwas komplizierter im Fall von Beausoleil, wo die Grenze sich nicht an den Straßenverlauf hält. Mal folgt sie diesem, mal überquert sie, mal führt sie gar zwischen zwei Gebäuden eines gleichen Blocks hindurch. Nun sind jedoch die Regeln der Stadtplanung in beiden Ländern nicht identisch, und die extrem hohen Grundstückspreise im Fürstentum haben den Bau von Hochhäusern gefördert. Die Bauten, die zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückreichen, wurden unter diesem Preisdruck durch Wolkenkratzer mit mehreren Dutzend Stockwerken ersetzt und haben damit den Gebäuden von Beausoleil häufig die Aussicht verbaut. Insgesamt verbinden nicht weniger als 24 Straßen und 14 Treppen und Fußwege die beiden Stadtteile.

Der unklare Grenzverlauf wird gelegentlich durch die Ortsnamen aufrecht erhalten. So heißt der 1992 eröffnete Zufahrtstunnel zum Fürstentum von der Autobahn A 8 aus “Tunnel von Monaco”, auch das Autobahnkreuz trägt den Namen “Monaco”, dabei befindet sich beides vollständig in Frankreich. Das Fürstentum hat finanziell zu den es erschließenden Infrastrukturen wie dem Eisenbahntunnel und dem zukünftigen Autobahnkreuz Beausoleil beigetragen, obwohl sie auf französischem Gebiet liegen. Ebenso bleibt eine Unklarheit um den Grenzverlauf bestehen, da manche Straßennamen, wie der Boulevard du Larvotto und die Avenue Princesse Grace, im Nachbarort Roquebrune weitergeführt werden. Auf französischer Seite verläuft die D 6007, vorige RN 7, rund um das Fürstentum und versorgt Beausoleil, trägt dort aber paradoxerweise den Namen “Avenue Prince Rainier III”. Der Parkbereich des Bahnhofs von Monaco-Monte-Carlo (2001 eröffnet) befindet sich auf französischem Boden, kann aber nur durch den Tunnel vom Fürstentum aus erreicht werden. Schließlich erklärt sich der Umfang monegassischen Immobilienbesitzes (also Eigentum des Fürstentums und von monegassischen Staatsbürgern) in den Nachbarorten aus dem bestehenden Platzmangel. Der Country-Club von Monte-Carlo, wo das gleichnamige Tennisturnier stattfindet, liegt im Nachbarort Roquebrune. Das gleiche gilt für die Radiosender von La Madone, die 1965 zur Ausstrahlung von RMC (Radio Monte-Carlo) installiert wurden, und für die fürstliche Residenz von Roc Agel hoch oben, im Nachbarort Peille.

Und schließlich ist hinzuzufügen, dass der Grenzverlauf nochmals geändert wurde, als das Fürstentum seit Ende der 1960er Jahre Erweiterungsarbeiten im Meer wegen Platzmangel unternommen hatte. Die Aufschüttung im Stadtteil Fontvieille und für das Stadion Louis II haben es auf französischer Seite ermöglicht, den neuen Stadtteil Saint-Antoine und den neuen Jachthafen Cap d’Ail zu schaffen. Dieses Technik- und Immobilienprojekt wurde übrigens vom Fürstentum finanziert. Und im Jahr 1985 hat Frankreich dem Fürstentum Monaco seine eigenen Hoheitsgewässer zuerkannt, 1,9 km breit auf 85 km Länge.

Pascal Orcier — photographie monaco

Das Fürstentum Monaco, vom Mont Gros aus gesehen (Gemeinde Roquebrune-Cap-Martin). Das vertikale Stadtbild dominiert, Folge des Raummangels und des hohen Quadratmeterpreises. Bildnachweis Pascal Orcier, 2010.

Pascal Orcier — photographie monaco

Zwischen Monaco und Beausoleil verzahnen sich Straßen und Gebäude mit vielen Straßenübergängen und Fußgängerpassagen. Bildnachweis Pascal Orcier, 2017.

5.3. Die Grenze EU – Andorra

Pascal Orcier

Pascal Orcier — photographie Andorre

Der Port d’Envalira, der höchste Pass der “Route de France” (Frankreichstraße CG2), zwischen dem Pas de la Casa und dem übrigen Fürstentum. Ein 2900 m langer Tunnel hat ihn ersetzt, der in 2050 m Höhe angelegt wurde, was ihn zum höchstgelegenen der großen europäischen Tunnel macht. Bildnachweis: Pascal Orcier, Juli 2017.

Andorra ist eine weitere Enklave innerhalb der EU, jedoch in einem anderen Kontext als Monaco und auch mit einer eigenen Funktionsweise. Im Herzen der Pyrenäenkette, von Zweitausendern umgeben, ist es an einer Talstraße entlang angelegt, der wichtigsten Straßenverbindung in Andorra, die von der spanischen zur französischen Grenze führt. Das Fürstentum liegt weit entfernt von den großen Städten Frankreichs und Spaniens, und war lange wegen der winterlichen Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten. Das änderte sich mit dem Bau des Envalina-Tunnels, der somit die Verkehrsströme aufrecht erhalten hat (das Fürstentum verfügt weder über Flughafen noch Bahnlinie).

Wegen der niedrigen Steuerrate auf Verbrauchsgüter ist Andorra seit einigen Jahrzehnten täglich einem hohen Waren- und Personenverkehrsstrom ausgesetzt. Die beiden Grenzübergänge werden, anders als in Monaco, regelmäßig vom französischen und vom spanischen Zoll kontrolliert. Die Ausfuhr von Alkohol, Tabak, Parfüm, Treibstoff und Konsumgütern ist in der Tat begrenzt. Was jedoch in keiner Weise die ununterbrochenen Fahrzeugschlangen in Richtung der Supermärkte am Eingang des Fürstentums beeinträchtigt, welche umfangreiche Erdarbeiten erforderlich machten. Andorra hat nicht weniger als 35 Tankstellen entlang der Hauptstraße zwischen Frankreich und Spanien zu bieten, dabei ist diese gerade mal 38 km lang!

Die Grenze ist offen und de facto befindet sich Andorra im Schengenraum, ohne jedoch das Abkommen unterzeichnet zu haben. Der Euro hat 2002 den französischen Franc und die spanische Peseta abgelöst, aber erst seit 2015 darf Andorra seine eigene Währung mit seiner nationalen Münzseite prägen, dank einer Vereinbarung mit der Europäischen Kommission, gemäß bilateraler Abkommen, ohne selbst Mitglied der Eurozone zu sein.

5.4. Grenze EU – Schweiz

Pascal Orcier —UE Schweiz

Nachdem die Schweiz beschlossen hatte, außerhalb des gemeinsamen EU-Projekts zu bleiben, bildet ihr Gebiet seit der Eingliederung Österreichs im Jahr 1995 eine Enklave mitten in der EU. Jedoch finden seit dem Beitritt der Schweiz zum Schengenraum im Jahr 2008 lediglich Zollkontrollen statt, entlang einer überwiegend im Hochgebirge verlaufenden und sehr gewundenen Landesgrenze. Dazu kommen zwei weitere Enklaven auf helvetischem Gebiet, das italienische Campione (im Süden) und das deutsche Büsingen (im Norden), beides historische Überbleibsel. Wegen der üblichen winterlichen Isolation von Livigno besitzt diese italienische Stadt einen besonderen Zollstatus. Zahlreiche bilaterale Abkommen regeln das Verhältnis zur EU als dem wichtigsten Handelspartner der Helvetischen Föderation, wo auch täglich mehrere zehntausend Pendler arbeiten. Die Schweiz und Liechtenstein bilden seit 1923 eine Zoll- und Währungsunion.

Der Große St. Bernhard – eine touristisch aufgewertete Grenze

Pascal Orcier

Dieser sehr alte Übergang zwischen Italien und der Schweiz, 2400 m über dem Meeresspiegel, ist wegen Schneefalls nur von Ende Mai bis Mitte Oktober geöffnet. Der Pass selbst liegt in der Schweiz, ebenso das im Mittelalter für Reisende und Rompilger  erbaute Hospiz. Die Überreste einer römischen Festung sind freigelegt worden, zum Teil aus Mitteln der EU, eine Entdeckung, die an die Langlebigkeit und das Alter dieses strategisch wichtigen Übergangs erinnert. Wie die meisten hohen Alpenpässe finden sich hier großzügig angelegte Parkplätze um die verschiedenen Gebäude mit ihren Angeboten für Restauration und Unterkunft, sowie Souvenirsverkauf. Der Pass ist Ausgangspunkt für Wanderwege und Mountainbikepfade, ist aber auch an sich eine Attraktion für Motorradfahrer und sonstige Ausflügler.

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Grenzbrücke zwischen der Schweiz und Italien am Großen St. Bernhard. Bildnachweis: Pascal Orcier, 2020. Originalfoto sehen, hier klicken.

Die Grenzlinie befindet sich im Bach, der in den Lac du Grand St-Bernard mündet. Sie ist vor Ort mit verschiedenen Symbolen bezeichnet. Die Brücke ist einspurig geblieben, beide Länder sorgen für die Schneeräumung ihres Straßenabschnitts, aber nicht unbedingt gleichzeitig. Es sind ausschließlich Touristenfahrzeuge, die auf dieser Straße seit 1964 verkehren, Jahr der Eröffnung des Tunnels und der überdachten Strecke (600 m unterhalb des Passes), welche die ganzjährige Durchfahrt sicherstellen.

 

6. Die Überseegrenzen der EU

Seit ihrer Gründung hat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bestimmte Überseegebiete bei gleichzeitiger Anerkennung einer besonderen Beziehung mit “sonstigen Ländern und Gebieten in Übersee” (Artikel 131, Anhang IV) integriert. Diese Verfügungen wurden seither wiederaufgenommen und präzisiert im Zuge des sich entwickelnden Status der verschiedenen Regionen. Die Europäische Union unterscheidet Gebiete in äußerster Randlage, die zur Union gehören, (Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guyana, Réunion, Mayotte, Saint-Martin (frz.), Kanarische Inseln, Azoren, Madeira), von überseeischen Ländern und Gebieten (ÜLG), die zu einem Mitgliedsstaat gehören, jedoch nicht zur EU. Wegen des Status der überseeischen Länder besitzt die EU nun Land- und Seegrenzen außerhalb Europas, welche wiederum von anderen EU-Mitgliedsstaaten abhängig sind. Da die betroffenen Gebiete überwiegend Inseln sind, sind dies hauptsächlich Seegrenzen.

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6.1. Französisch-Guyana

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Die längste Landgrenze der EU in Übersee ist die zwischen Französisch-Guyana und Brasilien (730 km), die hauptsächlich entlang des Flusses Oyapock verläuft. Die Grenze zu Surinam am Maronifluss ist ebenfalls wegen der illegalen Migrantenströme stark bewacht. Diese Flüsse bilden die Hauptdurchgangs- und Verbindungsachsen zwischen Küste und Hinterland, welche bewohnte Landstriche an kulturelle Einrichtungen im Grenzgebiet anbinden. Wegen der unscharfen Führung der althergebrachten Grenzen und den Veränderungen der Flussverläufe ist 2019 eine neue Grenzvereinbarung zwischen Surinam und Frankreich über den oberen Maroni erzielt worden, da die Souveränität einiger Inseln umstritten war. Am Oyapock hat der Bau einer grenzüberschreitenden Brücke 1997 kaum zur Verbesserung des Austauschs mit Brasilien beigetragen: Die bestehenden Visaregelungen, der Versicherungszwang für Fahrzeuge auf französischem Gebiet sowie der örtliche Pendelverkehr erklären die schwache Nutzung der Brücke. Dabei hatte sie 50 Millionen Euro gekostet und besaß auch Symbolwert als Bindeglied zwischen Frankreich und dem Giganten Brasilien.

6.2. St. Martin

Saint-Martin, Land- und Seegrenzen

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Die Insel St. Martin befindet sich in einer besonderen Situation, da sie mit dem Vertrag von Rijswijk (1697) zwischen Frankreich (Norden) und den Niederlanden (Süden) aufgeteilt wurde. Eine 10 km lange, weder sichtbare noch bewachte Grenze trennt zwei Einheiten, die je zu einem EU-Mitgliedsstaat gehören. Der französische Teil wurde zu einem Gebiet in äußerster Randlage, und zwar seit seiner Umwandlung 2007 in eine von Guadeloupe unabhängige Gebietskörperschaft (35 000 Einwohner), während Sint-Maarten, der niederländische Teil, nach der Auflösung der Föderation der niederländischen Antillen 2010 zu einem überseeischen Land und Gebiet (ÜLG) der EU wurde.

JB82 Un nouveau monument marquant la frontière entre Saint-Martin et Sint Maarten, inauguré en 2008.

Denkmal zur Grenzmarkierung zwischen dem Gebiet in äußerster Randlage Saint-Martin (in der EU) und dem ÜLG Sint-Maarten (außerhalb EU), mit dem Datum 1648. Bildnachweis: JB82, 2010) [Quelle].

6.3. Mayotte

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Mayotte im Indischen Ozean wurde 2011 ein französisches Département (mit einem einzigen Gemeindeverband) und damit zu einem Gebiet in äußerster Randlage der EU. Seine Seegrenze mit der Republik der Komoren wurde erst 1975 festgelegt. Letztere bestreitet diese Grenze, da sie das gesamte Archipel für sich beansprucht, und so wurde sie seit den 1990er Jahren wegen der zunehmenden illegalen Migrantenströme stärker überwacht. Immer wieder versuchen sog. Kwassa-kwassa Boote Mayotte von der 40 km entfernten komorischen Insel Anjouan/Ndzuwani zu erreichen.

Mehr als die Hälfte der geschätzten 256 000 mahorische Bevölkerung sei angeblich aus dem Ausland und ohne legalen Status. 2023 hat die französische Regierung wegen der Verschlechterung der sozialen Bedingungen und der Sicherheit auf der Insel die Operation Wuambushu (= in den Griff bekommen, auf mahorisch), um die Slums abzubauen und illegale Personen aus dem Land zu bringen. Das Inselgebiet allein hat an die 30 000 Ausweisungen pro Jahr veranlasst, das ist so viel wie im gesamten übrigen französischen Staatsgebiet. Die Anwendung  des französischen Geburtsortsprinzips hat einen “Entbindungstourismus” hervorgerufen, welcher die jährlich ungefähr 10 000 Geburten im Krankenhaus von Mamoudzou erklärt.
 

6.4. Die Kanarischen Inseln

Pascal Orcier

Als Archipel von sieben Hauptinseln im Atlantik bilden die Kanarischen Inseln ein Gebiet in äußerster Randlage der EU. Die dem afrikanischen Kontinent am nächsten gelegene Insel ist etwa hundert Kilometer von Marokko entfernt. Damit sichert sich Spanien eine ausgedehnte AWZ. Dennoch erhebt Marokko Anspruch auf einen Teil davon, während Spanien die Salvages Inseln, offiziell zu Portugal gehörend, einfordert. Die Nähe zu Afrika bringt eine erhöhte Überwachung der Seegrenze mit sich, da wiederholt Boote mit subsaharischen Migranten illegal diese Grenze zu überwinden versucht haben, trotz der Gefahren einer Seefahrt unter prekärsten Bedingungen.

Fazit

Die Grenze manifestiert sich sowohl in den Vorstellungswelten als auch in der Landschaft. Sie bringt besondere Belastungen für die verschiedenen Gebiete. Neu errichtet oder althergebracht, als endgültig oder nur provisorisch wahrgenommen, stellt die Grenze der Europäischen Gemeinschaft heute eine entscheidende Trennung innerhalb des Kontinents und seiner benachbarten Gebiete dar. Sie wirkt als Anziehungspunkt für Migranten auf der Suche nach einem Zufluchtsort, sie schreckt private Investoren ab, sie strukturiert die Beziehungs- und Austauschgefüge auf ihrem Gebiet. Zur EU zu gehören oder nicht wirkt sich auf Staatsebene ganz spezifisch im Funktionsablauf in den Grenzterritorien aus. Unsere Übersicht zeigt die außerordentliche Vielfalt der Situationen und Abhängigkeiten. Diese mit Geschichte und Geschichten befrachtete Grenze bildet ein besonderes geographisches Objekt im Rahmen der Untersuchungen zur Globalisierung.

 


Siehe auch
  • Valerio Vincenzos Fotografien über die Aufhebung der Binnengrenzen der Europäischen Union.
  • Eurobroadmap, visions of Europe in the World [en anglais]

 

Pascal ORCIER

Professor und Doktor der Geographie, Kartograf, Lehrer in Gymnasium Dumont d’Urville, Toulon (Frankreich)

Aus dem Französischen übersetzt von

Charlotte MUSSELWHITE-SCHWEITZER

 

Webbearbeitung: Jean-Benoît Bouron

Diesen Artikel zitieren:

Pascal Orcier, « Grenzen und Grenzgebiete in Europa: ein Spaziergang », Géoconfluences, Juni 2019-Dezember 2024. Aus dem Französischen übersetzt von Charlotte Musselwhite-Schweitzer im April 2025.
URL : https://geoconfluences.ens-lyon.fr/programmes/dnl/dnl-hg-allemand/grenzen-und-grenzgebiete-in-europa

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