Die Welt darstellen und aufteilen : die Nord-Süd-Grenze überwinden, um die Ungleichheiten von Reichtum und Entwicklung neu zu denken
Laurent Carroué, inspecteur général de l’éducation, du sport et de la recherche, directeur de Recherche à l’IFG - université Paris VIII
Hélène Mathian, ingénieure de recherche (méthodes en analyse spatiale) - CNRS, UMR 5600 EVS
Traduction en allemand :
Charlotte Musselwhite-Schweitzer, professeure des écoles (retraitée) - académie de Rennes
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Eine der Grundlagen des Geographieunterrichts an weiterführenden Schulen und Universitäten ist, die Welt gleichzeitig als einzigartig und vielfältig zu denken. Dieser fundamentale Prozess kann nicht ohne eine Darstellungsphase mit einer Aufteilung der Welt auskommen. Insbesondere beruht das Nachdenken über Entwicklung auf einer Unterscheidung von Reichtum einerseits, oder zumindest relativem materiellen Wohlstand mit Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen und Befriedigung der Grundbedürfnisse, und Armut andererseits, mit dem Ausschluss von diesen Dienstleistungen und in materieller Unsicherheit im Hinblick auf die elementarsten Grundbedürfnisse. Dabei wird oft unbewusst ein Vokabular verwendet, mit Begriffen wie “entwickelte Länder”, “Entwicklungsländer”, “Schwellenländer”, “der Norden”, “der Süden”. Diese Terminologie ist historisch überholt. Dann kommt hinzu, dass sie immer binär verläuft : Jedesmal werden zwei Einheiten gegeneinander ausgespielt. Nun hat der Prozess in den aufstrebenden Staaten, oder Schwellenländern, im Verlauf der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass ein Teil der Bevölkerung aus Ländern der zweiten Gruppe aus der materiellen Unsicherheit herausfand : alle Schwellenländer gehören zum “Süden”, obwohl sich ihre sozioökonomischen Merkmale teilweise denen des “Nordens” annähern, ohne jedoch ganz mit ihnen identisch zu werden. So ist es in der Tat unmöglich geworden, im Geographieunterricht weiterhin das Bild einer zweigeteilten Welt zu vermitteln, wenn eine der beiden Gruppen so unterschiedliche Länder wie China, Brasilien, Qatar, Uruguay, Ruanda und Madagaskar umfasst.
Unser Ausgangspunkt ist jedenfalls die Frage der Entwicklung und nicht die der Macht. Unter Entwicklung verstehen wir den Prozess, der einer Bevölkerung den Ausgang aus der Armut ermöglicht, wobei dieser Begriff seine eigenen Einschränkungen beinhaltet. Er geht auf eine historisch überholte Sichtweise zurück, in welcher der menschliche Fortschritt einer Geraden mit einem einzigen Zielpunkt für alle Länder gleicht, wobei einige Länder auf dieser Geraden eben “im Voraus” wären, andere “im Verzug”, alles im Bezugsrahmen eines unendlichen Wachstums aller Reichtümer. Man kann heute diesen Begriff nicht mehr verwenden, ohne einerseits die Verbindung zwischen dem Reichtum eines Landes und der Zufriedenheit seiner Einwohner herzustellen, und andererseits die Nachhaltigkeit des Modells mit Blick auf die globalen Umweltkrisen in Frage zu stellen. Zwar sind Instanzen wie die UNO seit mindestens zwei Jahrzehnten Fürsprecher einer nachhaltigen Entwicklung geworden, mit weltweiten Nachhaltigkeitszielen, jedoch scheint die Formel für eine konkrete ökonomische Entwicklung ohne erhöhte Umweltbelastungen noch nicht gefunden worden zu sein.
Und das umso mehr, als die Infragestellung der Entwicklung ein Privileg der sogenannten entwickelten Gesellschaften ist : für einen Großteil der Menschheit hat der Ausgang aus der Armut immer noch Vorrang. Dass das Überleben der Menschheit von der Umweltverträglichkeit ihrer Entscheidungen abhängt, ist leichter vom Standort eines Landes zu behaupten, in dem alle Grundbedürfnisse für die überwiegende Mehrheit seiner Bevölkerung befriedigt sind. Da unsere hier ausgeführten Überlegungen jedenfalls von verfügbaren und möglichst verlässlichen Daten abhängig sind, kann die Frage der ökologischen Nachhaltigkeit nur nebenbei behandelt werden, da zuverlässiges und verwertbares Datenmaterial Land für Land weltweit in diesen gleichwohl unerlässlichen Fragen nicht zur Verfügung steht ((Es ist beispielsweise schwierig, solche Zahlen für die CO2-Emissionen pro Kopf zu finden, die importierte, d.h. im Ausland freigesetzte, Emissionen berücksichtigen, Emissionen also, die die Konsumbedürfnisse eines anderen Landes befriedigen.)).
Die Zielsetzung dieses Artikels ist, eine innovative und anwendungsorientierte Aufteilung der Welt vorzuschlagen, welche den Stand der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung möglichst objektiv berücksichtigt. Dabei sind uns die angewandten Methoden ebenso wichtig wie die Ergebnisse selbst, da es darum geht, aus dem “Nord-Süd”-Schema herauszukommen, welches ohnehin durch die Hintertür der Entwicklungsgeschichte entschlüpft ist. Obwohl jedes Konstrukt selbstverständlich auseinandergenommen und zur Diskussion gestellt werden kann, also auch das unsere hier, so ist unser Ziel jedoch nicht nur, zur Reflexion anzuregen, sondern auch, zu einem praktikablen Ergebnis zu gelangen.
1. Welche Rahmenkonzepte, um über Entwicklung nachzudenken und sie zu charakterisieren ?
Welches konzeptuelle Instrumentarium bemüht wird, um die Frage der Entwicklung zu untersuchen, ist ein gutes Beispiel für zweierlei : für den Prozess der Wortschöpfungen und ihrer geschichtlichen Bedingtheit einerseits, und andererseits für die politischen, ideologischen und geopolitischen Belange, deren Träger sie im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionen sind (Carroué, 2019, 2020). Das Nord-Süd-Konzept ist in einem einzigartigen historischen Prozess entstanden. Die Begriffe zur Beschreibung der ungleichen Entwicklung wiegen schwer und sagen viel aus darüber, wie man die soziale und wirtschaftliche Weltordnung betrachtet, auch ohne sie als performativ oder sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu beschreiben.
1.1. Die Frage der Entwicklung : eine geschichtlich verankerte Terminologie
Der Begriff der “Unterentwicklung” wurde vom Präsidenten der Vereinigten Staaten Harry S. Truman am 20. Januar 1949 in Punkt 4 seiner “Rede zur Lage der Union” eingeführt, im Rahmen eines Plans zur Hilfe für die underdeveloped countries, welche er in die westliche Einflusssphäre integrieren möchte : “Wir müssen ein kühnes neues Programm starten, um die Vorzüge unserer wissenschaftlichen Errungenschaften und unseres industriellen Fortschritts den unterentwickelten Regionen zu ihrer Verbesserung und ihrem Wachstum zur Verfügung zu stellen.” Dabei gilt es, den American way of life zum universellen Vorbild zu machen, als Gegenentwurf zum sowjetkommunistischen Modell, das am Ende des Zweiten Weltkriegs Ansehen gewonnen hatte, zu einem Zeitpunkt, an dem der Kalte Krieg schon sehr heiß geworden war und China mit dem Machtantritt Maos umschwenkte.
Der Ausdruck “Dritte Welt” entstammt dann der Feder des französischen Demographen Alfred Sauvy in der französischen Wochenzeitung L’Observateur, August 1952, mit ausdrücklichem Hinweis auf den Dritten Stand der Französischen Revolution und auf die Formulierung von Abbé Sieyès : “Denn endlich will diese Dritte Welt, unerkannt, ausgebeutet, verachtet, wie schon der Dritte Stand es war, auch etwas sein” (Sauvy, 1952). Der Erfolg dieser Formel macht, dass sie von der Bandung-Konferenz 1955 an eingesetzt wird, als eine Ablehnung der durch den Kalten Krieg eingeführten Bipolarisierung im Rahmen der Entkolonisierung und der zunehmenden Bewegung der blockfreien Staaten. Der Ausdruck wird dann in einer Veröffentlichung des INED (Französisches Staatsinstitut für demographische Studien) 1956 übernommen. Er wird zu einem Schlüsselbegriff für die Einschätzung der Weltordnung, sowohl politisch als auch wirtschaftlich, und erwirbt seine Eigenständigkeit gegenüber dem Ursprungszusammenhang und den anfänglichen Zielsetzungen seines Erfinders.
Der Ausdruck “Entwicklungs-” bzw. “Schwellenland” (Newly Industrializing Economies) erscheint schließlich nach der 1973-er Krise in den Debatten über die Notwendigkeit einer “neuen Weltwirtschaftsordnung”. Er findet eine weite Verbreitung durch bestimmte internationale Institutionen im Netzwerk der Vereinten Nationen (FAO – Welternährungsorganisation, Welthandels- und Entwicklungskonferenz, Internationales Arbeitsamt, Weltgesundheitsorganisation). Damals ging man davon aus, dass die armen Länder sich auf dem Weg eines wirtschaftlichen Aufholprozesses befanden, wie er schon innerhalb der industrialisierten Länder in der vorhergehenden Epoche zu beobachten gewesen war. In den 1980-er Jahren differenziert sich der Begriff allmählich aus in “weniger fortgeschrittene Länder”, “neue industrialisierte Länder” und “Schwellenländer”.
1.2. Der Nord-Süd-Gegensatz zur Überwindung der Ost-West-Spaltung
Der “Nord”-”Süd”-Gegensatz erscheint 1980 in einem Bericht über Entwicklungsprobleme mit dem Titel Nord/Süd : das Überleben sichern unter der Leitung des deutschen Sozialdemokraten Willy Brandt (siehe unten). Für ihn war die Kluft zwischen Norden und Süden gegenüber dem Ost-West-Gegensatz aus dem Kalten Krieg prägender geworden (Capdepuy, 2007). Dem Norden entsprachen die vorherrschenden Mächte USA-Kanada, Westeuropa, Japan, sowie deren Anhang auf der Südhalbkugel, Australien und Neuseeland, dazu auch, in geringerem Umfang, Mitteleuropa, Osteuropa und die UdSSR. Dem Süden entsprachen die wirtschaftlich und politisch beherrschten Randzonen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Das Nord-Süd-Gefälle gleicht einer Photographie der wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Unterschiede jener Epoche und damit einem Panorama der politischen und geopolitischen Machtverhältnisse.
Dokument 1. Die Nord-Süd-Grenze, abgebildet auf dem Umschlag der französischen Ausgabe des Brandt-Berichts (1980) |
Im Gegensatz zu einer Perspektive menschlichen Fortschritts, wie sie im Begriff “Entwicklungsland” mitschwingt, verfestigte der Nord-Süd-Dualismus eher einen Tatbestand : Es war ganz und gar nicht mehr ausgemacht, dass ein dem “Süden” zugeordnetes Land jemals dem “Norden” beitreten könnte, umso mehr, als die Benutzung der Himmelsrichtungen oder der Bezeichnungen für die Erdhalbkugeln rein sprachlich eine Art natürlicher Ordnung festgeschrieben hatten, die nur schwer aufzubrechen war (Dufour, 2007). Jedenfalls nimmt dieses Bild einer in Nord und Süd gespaltenen Welt im Jahrzehnt nach seiner Entstehung, durch den Zusammenbruch des Ost-West-Gegensatzes begünstigt, einen vorherrschenden Platz ein, insbesondere in der Schulgeographie, aber auch in der Öffentlichkeit, und zwar bis zu Beginn der 2010-er Jahre. Zur Aufrechterhaltung dieser Konzeption wurden nur ein paar höchst symbolische und symptomatische Korrekturen der Grenzlinie vorgenommen – um etwa Israel oder Singapur einzuschliessen, aber beispielsweise keine der Ölmonarchien am Persischen Golf. Im darauffolgenden Jahrzehnt konnte man beobachten, wie der Begriff allmählich wegen sich häufender Kritik an Bedeutung verliert, und zwar insbesondere bei den französischen Geographen (vgl. Christian Grataloup, 2015). Und obwohl der Begriff, nunmehr mit Anführungszeichen versehen und in Pluralform, noch im allgemeinen Sprachgebrauch überleben konnte, wurde er nur noch als zu kritisierendes Konzept gelehrt.
1.3. Die englischsprachigen Investmentbanker haben das Wort : wenn die Finanzwelt den Aufstieg benennt
Es ist hauptsächlich das Phänomen des Aufstiegs der Schwellenländer, zunächst im Bereich der Finanzmärkte (Montalieu, 2019) festgestellt, welches die bipolare Weltordnung laut “Nord-Süd-Grenze” durcheinanderbringt.
Der Ausdruck “Schwellenländer” setzt sich Anfang der 1990-er Jahre durch im Gefolge des Financiers Antoine van Agtmael vom Bankers Trust New York, um neue Investitionsstandorte festzustellen. Die Weltbank hat den Begriff sehr schnell übernommen und verbreitet und damit Stagnationsgebiete (zum Beispiel solche, die in Afrika oder Lateinamerika ein “verlorenes Jahrzehnt” einstecken mussten) von Ländern unterschieden, die wie Brasilien, Mexiko, Südkorea, China usw. in einem wirtschaftlichen Aufschwung begriffen sind. Der Ausdruck wird heute in der Geopolitik benutzt, wo früher unterdrückte Staaten sich einen Platz als Welt-, Kontinental- oder Regionalmächte erobern.
Der Ausdruck BRIC (Brasilien, Russland, Indien, China), dann BRICS (mit Südafrika) taucht im November 2001 auf, geprägt durch den Financier Jim O’Neill, Spitzenökonom der amerikanischen Businessbank Goldman Sachs in New York. Er bezeichnet damit eine neue Ländergruppe für Investitionen. Damit wird ihre demographische und wirtschaftliche Bedeutung sowie ihre Dynamik gewürdigt (40% der Weltbevölkerung, 16% des Bruttoweltprodukts).
Dieser kurze Ausflug in die Herkunftsgeschichte der Begriffe verweist auf die Brüche bei der Entstehung der Konzepte, um Entwicklung zu reflektieren und zu analysieren. Wo sie in den Jahren von 1950 bis 1980 von Politikern geprägt wurden (Harry Truman, Willy Brandt), oder von Sozialwissenschaftlern (Alfred Sauvy), so sind es die großen nordamerikanischen Geschäftsbanken sowie das angloamerikanische Finanzkapital im weiteren Sinne, die den Sprachgebrauch in den Jahren von 1990 bis 2000 übernehmen und weiterführen. Und dass sie ihr Vokabular und ihre geopolitischen Weltanschauungen produzieren und durchsetzen können, ist ein Zeichen für die Vitalität und Attraktivität der US-amerikanischen soft power. Womit wir betonen möchten, wie wichtig uns eine kritische Betrachtung des Gebrauchs eben dieser Terminologien ist : muss man denn eigentlich die Welt mit den Augen eines New Yorker Bankers betrachten ?
Dokument 2. Die Begriffe zur Aufteilung der Welt im Hinblick auf Entwicklungsunterschiede, 1949 – 2022 |
2. Welche Indikatoren, um Reichtum und Entwicklung einzuschätzen ?
Es gibt genau genommen keine weltweiten, sondern eher internationale Statistiken : es sind nämlich Zusammenstellungen von nationalen Statistiken, welche von internationalen Organisationen vorgenommen werden. Es stehen gleichwohl viele Indikatoren zur Verfügung, um die wirtschaftliche und menschliche Entwicklung zu beschreiben, und an deren erster Stelle ist der Index für menschliche Entwicklung (HDI), der geläufigste und zweifellos der erfolgreichste Index. Man kann ihn von den Daten der Weltbank ausgehend kartographieren und damit einen Entwicklungsgradienten erscheinen lassen, eine auf die Karte transponierte Rangfolge der Länder auf der menschlichen Entwicklungsskala, von Norwegen bis Niger. Diesen Weg haben wir jedoch aus den folgenden Gründen nicht eingeschlagen.
2.1. Die heikle Verwendung der von den internationalen Institutionen konstruierten üblichen Indikatoren
Uns erscheint, dass die Verlässlichkeit der von den internationalen Institutionen bereitgestellten Weltdaten insgesamt zu wenig in Frage gestellt wird. Dabei bestreiten wir nicht, dass sie mit größter Sorgfalt und dem ernsthaften Bemühen um Objektivität erstellt werden. Jedoch sollte ihre Nutzung immer die kritische Reflexion ihrer Entstehungsbedingungen beinhalten : denn die Weltdaten sind Zusammenstellungen von nationalen Erhebungen. Je nach Land kommen sie unter höchst ungleichen Bedingungen zustande, in unterschiedlichsten Zeitspannen und Modalitäten, werden dann korrigiert und untereinander harmonisiert, womöglich mit Prognosen versehen, wenn keine aktuellen Daten zur Verfügung stehen. Solche Prognosen können sich über Jahrzehnte erstrecken : in bestimmten Städten Afrikas südlich der Sahara liegen die letzten verlässlichen Volkszählungen vier bis fünf Jahrzehnte zurück.
Im Fall von zusammengesetzten Indikatoren, welche auf mehreren anderen Daten beruhen, verstärkt sich das Phänomen noch. Auch der HDI ist nichts weiter als ein statistisches Konstrukt, so interessant, nützlich und ergiebig es auch sein mag. Wir bestreiten keineswegs seine Anwendung, aber wir kommen lieber möglichst ohne zusammengesetzte Indikatoren aus (HDI, multidimensionale Armutsquote, Gini-Index …) und versuchen dabei, so weit wie möglich Rohdaten zu kombinieren.
Viele Indikatoren haben sich im Verlauf unserer Arbeit als unbrauchbar erwiesen, nachdem die verfügbaren Daten untersucht worden waren. In vielen Fällen schlagen die internationalen Institutionen wie die Weltbank oder die UNO eine Größe für alle Länder vor, jedoch “zum letzten verfügbaren Zeitpunkt”. Die methodologischen Auswirkungen sind beträchtlich. So enthielt zum Zeitpunkt unserer Untersuchung eine Tabelle Daten von 2014 bis 2020, also mit bis zu sechs Jahren Abweichung.
In einigen Fällen kann die Abweichung noch viel schwerwiegender sein : In einer UNO-Tabelle galt eine Größe für alle Länder der Welt, in der Regel für 2019 oder 2020, während die letzte verfügbare Größe für Afghanistan auf 1978 zurückging. Es geht daraus hervor, wie schwierig es ist, eine Weltkarte zu erhalten, die einer statistischen Momentaufnahme gleicht und nicht einer Kompilation von Prognosen. Für alle von uns verwendeten Indikatoren gilt, dass wir alle Daten von 2014 an behalten, und alle älteren als fehlend behandelt haben.
Die Wahl der Indikatoren macht auch immer eine Aussage über ein Weltbild, schon allein deshalb, weil die Verfügbarkeit von Datenmaterial vom Willen der internationalen Institutionen abhängt, eine bestimmte Frage zu untersuchen, oft im Zusammenhang mit den Vorstellungen der Beschäftigten in den statistischen Ämtern sowie den Anliegen der Vertreter der Mitgliedsstaaten. Das innere Bruttosozialprodukt oder die Kindersterblichkeit sind bevorzugte Indikatoren dieser Institutionen, und es ist leicht, an aktuelle Daten dazu für viele Länder heranzukommen.
Bestimmte wesentliche Kriterien von nachhaltiger Entwicklung können jedoch nicht berücksichtigt werden, und zwar wegen fehlender verlässlicher Daten, etwa die Fähigkeit einer Bevölkerung, auf unserer Erde ohne unnötigen Ressourcenverbrauch auszukommen, oder das Überleben von Ökosystemen in jedem Staat, oder auch die Anpassung an globale Veränderungen … Das ist die Herausforderung an die Statistik von morgen, die neue Instrumentarien erfordert, welche zur Stunde noch außer Reichweite liegen. Es ist uns bewusst, dass wir mit der Benutzung von verfügbaren Indikatoren wie dem sehr umstrittenen Bruttoinlandsprodukt BIP einen Großteil dessen verschleiern, was eigentlich den Entwicklungsgrad ausmachen sollte, und zwar, weil verlässliche Weltdaten fehlen. Ein weites Feld, das es zu erforschen gilt, um aus dem begrenzten Paradigma der “Entwicklung” herauszufinden.
2.2. Sieben Indikatoren, um Armut, Reichtum und Ungleichheiten zu messen
Um die Armut zu beurteilen, war keiner der üblichen Indikatoren (wie die Armutsquote mit 1,90 $) brauchbar, und zwar wegen fehlender oder veralteter Daten in zu vielen Ländern. Zwei Indikatoren wurden ausgesucht : die Fruchtbarkeitsquote der Frauen und die Säuglingssterblichkeit, da deren Korrelation mit der Armut sehr gut erwiesen ist : sie sind umso höher, je ärmer ein Land ist. Die Säuglingssterblichkeit erlaubt außerdem, in einem reichen Land einen Bevölkerungsteil zu identifizieren, der wenig Zugang zum Präventions- und Pflegesystem hat wegen einer starken inneren Polarisierung des Landes, wie die Vereinigten Staaten (auf Rangplatz 49, hinter Serbien und Uruguay und vor Antigua und Barbuda und China).
Für den Reichtum und die Ungleichheiten ist das Pro-Kopf-BIP in konstanten Dollars der roheste Indikator, der zu finden ist, auch wenn er ein Konstrukt mit einem komplexen Aufbau bleibt (Maurin, 1996), der mit zahlreichen Einschränkungen daherkommt, insbesondere in Sachen Entwicklung (Hugon, 2005). Stets mit der Absicht, die am wenigsten veränderten Indikatoren zu verwenden, erschien es uns vorteilhafter, die BIP in konstanten, und nicht laufenden, Dollars zu vergleichen, und ohne die Kaufkraftparität zu bereinigen. Dieser Indikator wird hier in seiner logarithmischen Form verwendet. Diese Transformation ist notwendig bei der Arbeit mit Werten, die zwei Merkmale aufweisen : sehr verschiedene Größenordnungen (das BIP variiert von 100 bis 175 000) ; eine sehr ungleiche Verteilung mit einerseits starken Konzentrationen auf niedrige Werte, und andererseits sehr verstreuten hohen Werten (typische Verteilung der Reichtümer). Diese logarithmische Transformation ermöglicht die Korrektur von derart bedeutenden Unterscheidungen, um dann die Unterschiede besser hervorzuheben, auch bei den niedrigen Werten.
Wir ergänzen das Pro-Kopf-BIP mit zwei weiteren Größen : einerseits das Konsumverhalten der Haushalte (in Dollars pro Kopf), welches den tatsächlichen Zugang der Bevölkerung zum Landesreichtum abzuschätzen erlaubt, andererseits die Bruttoinvestitionen (in Dollars pro Kopf), welche die reale Investitionskapazität eines Landes anzeigen. Im weiteren Verlauf des Textes wird der Einfachheit halber von “Konsum” und “Investition” die Rede sein. Wir glauben nicht, dass der Kauf von drei Fernsehgeräten oder drei Autos pro Familie unbedingt ein Indikator für das allgemeine Wohlbefinden ist, aber, im weltweiten Vergleich, gibt der Pro-Kopf-Konsum trotz allem ein Bild davon ab, wie viel Zugang eine Bevölkerung zu den lebensnotwendigen Gütern hat, insbesondere zur Ernährung.
Auch wenn diese Indikatoren schon Formen von Ungleichheiten verraten, unterschätzen sie immer noch zu sehr die Ungleichheiten innerhalb der Staaten. Es gibt einige Vorschläge, die Indikatoren im Weltmaßstab mit einer subnationalen Skala zu kartographieren (Didelon et al., 2017), aber daraus brauchbare Indikatoren zu konstruieren liegt noch vor uns. Wir haben deshalb einen zusammengesetzten Indikator hinzugenommen, der aus anderen Daten hervorgegangen ist : die Einkommensschere zwischen den 10 % Reichsten und den 50 % Ärmsten (mehr oder weniger das Prinzip der Palma-Quote), welche einem Bericht über die weltweiten Ungleichheiten entnommen ist (Chancel, 2021).
Die Schulbesuchsquote von Mädchen an weiterführenden Schulen wurde anfangs mitberücksichtigt, musste dann aber aufgegeben werden, da für eine zu große Anzahl von Ländern Daten fehlen und wir diese Länder von unserer Studie hätten ausschließen müssen.
Alle verwendeten Indikatoren stehen im Verhältnis zur Bevölkerung, denn unser Ziel ist es hier nicht, die Wirtschaftsmacht oder das Gewicht der Länder zu beobachten, sondern vielmehr deren Fähigkeit, die Versorgung der Bevölkerung und die Qualität ihrer sozialen Reproduktion (Gesundheit, Prävention, Erziehung …) zu sichern : es wird die “Entwicklung” untersucht, nicht die Macht oder das “Gewicht” jedes Staats.
Um eine zeitliche Dimension einzuführen, sind wir von zwei Daten des Pro-Kopf-BIP ausgegangen, mit einem zwanzigjährigen Abstand : 2000 und 2020. Wir haben dann den Stand von 2020 festgehalten und eine weitere Größe hinzugefügt, die die Differenz zwischen beiden Daten berücksichtigt, d.h. den Prozentsatz des Pro-Kopf-BIP-Wachstums zwischen 2000 und 2020. Diese Größe begünstigt statistisch jene Länder, die 2000 ein niedrigeres Pro-Kopf-BIP hatten, denn es ist leichter, prozentual hohe Steigerungswerte bei niedrigeren Ausgangszahlen zu erzielen. So hat die Tschechei, die 2000 ein um ein Drittel niedrigeres Pro-Kopf-BIP als Saudi Arabien hatte (12 300 $ gegen 17 700 $), letzteres 2020 überholt (18 966 $ gegen 18 691 $ Pro-Kopf-BIP). Sie hatte also ein stärkeres Pro-Kopf-BIP-Wachstum in diesen zwanzig Jahren. In gleicher Weise wurde für die Bruttoinvestitionen ein Mittelwert über die letzten zehn Jahre errechnet. So können Länder verglichen werden, indem man hohe, aber punktuelle Investitionen bereinigt, wie z.B. große Bergbauprojekte in dünnbesiedelten Ländern.
Die Kartographie jeder Variable veranschaulicht die vorherrschenden Tendenzen einer Weltorganisation, aber auch die Variabilität um diese Tendenzen (Dokument 3).
Dokument 3. Die sieben ausgewählten Indikatoren |
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Fruchtbarkeitsrate, Geburten pro Frau (2019) |
Säuglingssterblichkeit bei 1000 Lebendgeburten (2020) |
Pro-Kopf-BIP in laufenden US-Dollars, 2020 |
Entwicklung des Pro-Kopf-BIP zwischen 2000 und 2020 in % |
Konsum der Haushalte pro Kopf in US$ |
Bruttoinvestitionen pro Kopf in US$ (10-Jahres-Durchschnitt) |
Einkommensschere zwischen den 10 % Reichsten und den 50 % Ärmsten |
2.3. Datengewinnung
Ziel ist, die Art und Weise zu kennzeichnen, in der die Länder sich in Bezug auf die hier vorgestellten Variablen organisieren, und dann die Unterschiede zwischen den in den Karten beobachteten Profilen zusammenzufassen. Die Karten zeigen Überlagerungen auf, die man gut in einer paarweisen Betrachtung erläutern kann. Es lassen sich wesentliche statistische Ähnlichkeiten erkennen, wie zwischen der Säuglingssterblichkeit und der Fruchtbarkeitsrate, oder zwischen dem Konsum der Haushalte und den Bruttoinvestitionen. Diese Ähnlichkeiten der Karten hängen mit Kovarianzen zusammen, wie in der Graphik von Dokument 4a für die Fruchtbarkeitsrate (Waagerechte) und für die Säuglingssterblichkeit (Senkrechte) veranschaulicht. Der Punktecluster in der Abbildung verweist auf eine starke Beziehung. Die Interpretation dieser Beziehungen ist ziemlich banal im Hinblick auf unser Wissen, da man sie erwartet. Nichtsdestoweniger taucht gelegentlich eine unerwartete Variabilität dieses statistischen Verhältnisses in den Positionen bestimmter Länder auf, wie zum Beispiel höchst unterschiedliche Säuglingssterblichkeitsraten bei gleichwertigen Fruchtbarkeitsquoten : vgl. Israel und Dschibuti in Dokument 4a.
Dokument 4. Bivariate Analyse : Beziehungen zwischen den paarweise betrachteten Indikatoren |
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4a. Starke Beziehung zwischen Fruchtbarkeitsrate und Säuglingssterblichkeit |
4b. Umgekehrt starke Beziehung zwischen Säuglingssterblichkeit und Pro-Kopf-BIP in logarithmischer Skala |
Die Säuglingssterblichkeit von 2020 und das BIP des gleichen Jahres sind ein Beispiel für eine umgekehrte Beziehung. Beide Indikatoren sind sehr stark, aber negativ verbunden (R = – 0,78). Man kann die Säuglingssterblichkeit mit der Qualität des Gesundheits- und Sozialsystems verbinden, und damit, wie in diesem Bereich der Reichtum investiert wird. Das Dokument 4b zeigt, dass bei gleichwertigem BIP eine große Vielfalt von Fällen zu beobachten ist, wie z.B. die Ukraine mit einer niedrigen Säuglingssterblichkeit und Nigeria mit einer Säuglingssterblichkeit, die viel höher liegt, als sein Reichtum hätte vermuten lassen.
Schließlich kann es auch eine Nicht-Beziehung zwischen den Indikatoren geben : Das ist der Fall des Wachstums des Pro-Kopf-BIP über zwanzig Jahre, welches mit keinem anderen Indikator korreliert : So kann man ein niedriges oder negatives Wachstum haben, bei gleichzeitig hohem Reichtum oder großer Armut.
An diesen Beispielen von Beziehungen zwischen zwei Indikatoren lassen sich drei Elemente zum Verständnis der Problematik unserer Zielsetzung ablesen, deren Absicht die Kategorisierung der Länder je nach Unterschieden und Ähnlichkeiten im Hinblick auf alle sieben gewählten Indikatoren ist :
- Das erste Element ist, dass aus der Sicht der Beziehungen zwischen den paarweise betrachteten sieben Indikatoren sämtliche Fälle auftreten : eine hohe positive oder negative Relation, oder eine Nicht-Relation. Es gibt demnach keine einfache Zusammenfassung der Relationenstruktur zwischen allen diesen Indikatoren, welche die gesuchte Kategorisierung unterlegen würde.
- Das zweite Element ist, dass es trotz einer weltweit einfachen Relation zwischen zwei Indikatoren im Fall einzelner Länder eine gewisse Variabilität um diese Relation gibt. Die Stellung der Länder variiert demnach von einer Relation zur anderen und erscheint dann bald als einzigartig.
- Drittes Element, Man beobachtet schlieβlich bei jeder Darstellung einer Relation eine Gleichförmigkeit von Situationen und nichts deutet darauf hin, dass man “die Länder klassifizieren” kann, obwohl gerade das unsere Zielsetzung ist.
Die in den folgenden Abschnitten dargestellte statistische Aufbereitung wurde nicht von vornherein mit den sieben vorgestellten Indikatoren gemacht : Sie wurde vielfach getestet, einige Indikatoren wurden hinzugefügt, andere entfernt. Wir präsentieren hier das Ergebnis und das verwendete Verfahren, indem wir von den sieben gewählten Indikatoren ausgehen, aber es ist auch das Ergebnis eines Verfahrens, in dem wir wiederholt die Ergebnisse von vielen Indikatorenbündeln untersucht haben.
Um diese Kategorien herzustellen wurde eine multivariate Methode aus der Familie der “Datenanalysen” angewandt, die aufsteigend hierarchische Clusteranalyse ((Es geht um eine hierarchische Clusteranalyse aller Faktoren, die aus einer Hauptkomponentenanalyse stammen.)). Diese Methode erlaubt uns, die durch mehrere (hier sieben) Indikatoren beschriebenen Elemente (hier die Länder) zu “klassifizieren/ordnen”. Es ist eine geometrische Methode, die gleichzeitig Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Ländern aufgrund mehrerer Indikatoren anzugehen erlaubt. Ähnlichkeiten und Unterschiede werden so durch die Abstände zwischen den abgebildeten Ländern in einem mathematischen Raum evaluiert, der ebenso viele Dimensionen wie Indikatoren hat. Nach und nach gruppiert diese Methode die benachbarten Länder, d.h. solche, die sich im Hinblick auf die sieben Indikatoren am meisten ähneln, und ermöglicht dabei eine gute Differenzierung der Klassen.
Es entsteht so ein Baumdiagramm mit aufsteigendem hierarchischen Clustering (oder Dendrogramm), welches die Geschichte dieser benachbarten Cluster beschreibt. Auf der Grundlage dieses Baums wird eine Aufteilung gewählt (Dokument 5). Je nachdem, an welcher Stelle der Baum geteilt wird, erhält man mehr oder weniger Klassen pro Kategorie. Es geht darum, den besten Kompromiss zu finden zwischen einerseits vielen Klassen, welche die Verschiedenartigkeit der beobachteten Situationen besser widerspiegeln, aber dabei mit schwer zu begreifenden Nuancen, und andererseits zu wenigen Klassen, was die Unterscheidungen auf wenige Archetypen beschränken würde. Es gibt eben nicht nur eine Art der Aufteilung. Außerdem, im Licht der vorausgegangenen dritten Anmerkung, muss man bei der Interpretation der Klassen im Auge behalten, dass die Verteilung der Staaten nach den sieben Indikatoren ein Kontinuum bildet. Und, wie bei einer univariaten Diskretisierung, ordnet eine Aufteilung das Kontinuum in Klassenkategorien, und so kann die Methode dazu führen, dass nahstehende Elemente in zwei verschiedene Klassen aufgeteilt werden.
Dokument 5. Baumdiagramm zur aufsteigenden hierarchischen Clustering |
Im folgenden Teil stellen wir die Ergebnisse dieses Algorithmus vor, welche aus einer Anzahl von getesteten Wahlmöglichkeiten (Auswahl der Variablen, des Algorithmus) hervorgegangen sind. Das Resultat ist eine Lesart einer Wirklichkeit (unter allen möglichen beobachtbaren Wirklichkeiten), welche es ermöglicht, die Einkommensunterschiede in der Welt zu interpretieren.
3. Vorschlag einer neuen Typologie : drei Welten, sechs Gruppen
Vom Baumdiagramm (Dokument 5) ausgehend, schlagen wir zunächst eine Typologie der Länder vor, welche einer Aufteilung der Welt in sechs Klassen entspricht, wobei jede Klasse zwischen sieben und vierundfünfzig Länder zusammenfasst (Dokument 6). Insgesamt sind 154 von 194 Staaten klassifiziert worden, da für etwa vierzig Staaten mindestens eine Größe entweder fehlte oder nicht verwertbar war.
3.1. Eine Welt in sechs Länderklassen
Dokument 6. Präsentation der gewählten sechs Klassen |
Die Staaten sind in sechs Klassen gruppiert, im Hinblick auf die Werte der sieben Indikatoren, und zwar so, dass jedes Land im Schnitt den Ländern seiner Klasse “näherkommt” als der Gesamtmenge der Länder einer anderen Klasse. Für jede Klasse gibt es ein “Musterbeispiel”, d.h. denjenigen Staat, der für die Gruppe, was die sieben Indikatoren angeht, am typischsten ist. Mit anderen Worten, es sind die sieben Staaten, deren Profil am meisten dem eines von jeder Gruppe ähnelt, wie s.o. (Dokument 6) angezeigt.
Mit Blick auf die Profile dieser sechs Gruppen heben sich ganz klar drei Großgruppen ab. Es geht nun darum, sie in Bezug auf die Gesamtheit ihrer Merkmale zu benennen, welche sich aus der Analyse der sieben Indikatoren ergeben haben. Der Begriff für die Länder der Klassen 1 und 2 stammt aus dem Feld der Sozialgeographie : Prekarisierung bezeichnet eine unsichere Situation angesichts von Schwierigkeiten und Risiken. Für die Länder der Klassen 5 und 6 haben wir den Begriff “begünstigt” gewählt, der gewöhnlich feineren Skalen vorbehalten ist. Er benennt eine Situation von Wohlstand und Entwicklung, die sich einer Reihe von Erbschaften verdankt. Und für die Länder der Klassen 3 und 4 bleibt kein treffenderer Begriff als “aufstrebend, im Aufschwung befindlich” (= Schwellenland), ihre Merkmale entsprechen genau denen des Aufschwungprozesses in den Schwellenländern : Zunahme des Pro-Kopf-Reichtums, Abnahme von demographischen Indikatoren der Armut, aber anhaltende innere Ungleichheiten.
3.2. Zwei Klassen von prekären Staaten
Die Klassen 1 und 2 entsprechen zwei Gruppen von prekären Staaten (Dokument 6 und 7).
Klasse 1 siebenundzwanzig Staaten, die als “sehr prekär” klassifiziert wurden. Musterbeispiel ist Kamerun. Höchste Fruchtbarkeitsquote bei höchster Säuglingssterblichkeit, und dazu niedrigstes Pro-Kopf-BIP. Die Einkommensschere ist hier weiter geöffnet als in den reichen Ländern, aber weniger als in den Schwellenländern. Das prozentuale Pro-Kop-BIP-Wachstum im Zwanzig-Jahre-Durchschnitt ist niedriger als in allen anderen Gruppen, mit Ausnahme der beiden reichen Ländergruppen, aber aus anderem Grund, da die Ausgangsdaten sehr verschieden sind : Angola (Klasse 1) und Israel (Klasse 6) haben das gleiche Pro-Kopf-BIP-Wachstum im Zwanzig-Jahre-Durchschnitt (+ 23,9 % und + 23,8 %), aber im Jahr 2000 hatte Angola ein Pro-Kop-BIP von 3 214 $, gegen 39 912 $ für Israel. Dieses niedrige Pro-Kop-BIP-Wachstum im Zwanzig-Jahre-Durchschnitt (+ 17 % im Schnitt für Klasse 1, + 29 % für alle anderen Staaten) lässt vermuten, dass sich diese Länder in einer Armutsfalle befinden, welche ihren Aufstieg verhindert. Achtzehn von diesen siebenundzwanzig Ländern gehören zu den am wenigsten fortgeschrittenen Ländern (LDC), sprich zwei Drittel dieser Gruppe, und nur drei von ihnen befinden sich nicht in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara : Haiti, Syrien und Pakistan.
Klasse 2 entspricht der Gruppe der prekären, sehr ungleichheitlichen Staaten und davon gibt es nur sieben. Am repräsentativsten für diese Gruppe ist Eswatini (früher Swasiland). Es ist auch die einzige Gruppe von zusammenhängenden Ländern, alle befinden sich im südlichen Afrika. Übrigens gehört nur ein einziger südafrikanischer Staat nicht zu dieser Gruppe, Lesotho, welches zu Klasse 1 gehört. Zwei von diesen sieben Ländern gelten als am wenigsten entwickelte Länder. Im Verhältnis zu Klasse 1 sind die Staaten dieser Gruppe etwas weniger arm, ihr Pro-Kop-BIP ist stärker angestiegen, Säuglingssterblichkeit und Fruchtbarkeitsrate sind weniger hoch. Sie unterscheiden sich jedoch klar im Hinblick auf einen Indikator : die Einkommensschere klafft weiter auseinander als in allen anderen Gruppen. Alle sieben Länder gehören auf die Liste der weltweit elf Länder, in denen die Einkommensunterschiede zwischen den 10 % Reichsten und den 50 % Ärmsten am größten sind. So hat in dieser Gruppe ganz klar die Mehrheit nicht vom Reichtumszuwachs profitiert, sondern nur eine verschwindend kleine Minderheit. In Südafrika zum Beispiel verfügen die 10 % Reichsten über 65 mal mehr als das gesamte Einkommen der 50 % Ärmsten !
3.3. Zwei Klassen von Schwellenländern
Die Klassen 3 und 4 versammeln die Schwellenländer, das sind 46 % der in unserer Untersuchung aufgeführten Staaten (Dokument 6 und 7).
Klasse 3 enthält die aufstrebenden, im Aufschwung befindlichen achtzehn Staaten, in denen der Reichtum am meisten gewachsen ist, wo jedoch die Merkmale der Armut sehr sichtbar bleiben. Tadschikistan ist das gewählte Musterbeispiel. Außer diesem Land gehören acht “afrikanische Löwen” (Ausdruck für die afrikanischen Staaten mit starkem Wirtschaftswachstum) zu dieser Gruppe, dazu fünf aus der “indischen Welt” sowie die drei Länder der indochinesischen Halbinsel. Es ist die Gruppe mit dem niedrigsten Pro-Kop-BIP nach der Klasse 1, aber mit dem größten Anstieg desselben Pro-Kop-BIP im Zwanzig-Jahre-Durchschnitt. Die anderen Indikatoren – Einkommensschere, Säuglingssterblichkeit und Fruchtbarkeitsrate – platzieren sie in einer Mittelposition zwischen den am meisten begünstigten und den prekärsten Ländern. Virginie Chasles (2022) hat sehr gut am Beispiel Indiens aufgezeigt, wie der Wirtschaftsaufschwung ein Anwachsen der Ungleichheiten mit sich bringen kann, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Elf von diesen achtzehn Staaten (61 %) verbleiben laut UNO in der Kategorie der wenig entwickelten Länder (LDC).
Die Klasse 4 ist mit Abstand die zahlreichste : siebenundfünfzig Staaten von den 154 mit brauchbarem Datenmaterial. Es sind dies die “aufstrebend konsolidierten” Länder mit Paraguay als Musterbeispiel. Diese große Gruppe bildet eine Art “Mittelstand der Länder”, mit Werten, deren Indikatoren sich dem Weltdurchschnitt am meisten annähern. Sie befinden sich in einer Übergangsposition zwischen den im Aufschwung befindlichen und den begünstigten mit Anfälligkeiten. Ein bedeutender Teil Lateinamerikas und Asiens gehört zu dieser Gruppe, dazu auch Nordafrika, Ägypten und die ehemals kommunistischen Länder außerhalb der EU oder die nach 2004 in diese aufgenommenen Staaten (Bulgarien und Rumänien). Siebzehn dieser Länder sind LDC (29 %).
Zusammengenommen gehören mehrere Wirtschafts- und Bevölkerungsriesen in die Klassen 3 und 4 (China, Indien, Russland, Brasilien, Mexiko, Indonesien, Malaysia, Thailand, Vietnam, Ägypten, Türkei …) und sie stellen damit zwei Drittel der Weltbevölkerung und tragen in hohem Maße zum Wachstum des weltweiten Pro-Kop-BIP bei.
3.4. Zwei Klassen von begünstigten Staaten
Die Klassen 5 und 6 entsprechen den begünstigten Staaten (Dokument 6 und 7).
Klasse 5 zählt fünfundzwanzig Länder, die wir als “begünstigt mit Anfälligkeiten” gewertet haben, denn ihre Indikatoren stehen zwischen den sehr reichen und den aufstrebend konsolidierten Staaten. Ihr Musterbeispiel ist Portugal : die Randzonen der EU am Mittelmeer und im Osten stellen fünfzehn der fünfundzwanzig Länder. Die anderen sind entweder Ölmonarchien oder Stadtstaaten, und ein paar Länder mit einem atypischen Profil wie Uruguay, Libanon oder Südkorea. Die Länder dieser Gruppe haben die niedrigste Fruchtbarkeitsrate der Welt (1,5 Kinder pro Frau, gegenüber 1,6 in Klasse 6 und 2,6 für die Gesamtheit der Staaten), und die Alterung wird zu einem Anliegen für einige von ihnen. Südkorea hat sogar eine Fruchtbarkeitsrate unter 1 (0,918 Kind pro Frau). Der Begriff der Anfälligkeit ist vielleicht schlecht gewählt. Es geht vor allem um eine Gruppe mit einem zwiespältigen Status : diese Staaten sind reicher als die Schwellenländer (oder aufstrebenden), auch mehr entwickelt, aber weniger reich und etwas ungleichheitlicher als die Länder der Klasse 6.
Der Klasse 6 entsprechen die sehr begünstigten Staaten. Ihre zwanzig Staaten haben die niedrigste Säuglingssterblichkeit, und die Konsumwerte, die Bruttoinvestitionen und das Pro-Kop-BIP sind die Höchsten der sechs Gruppen. Musterbeispiel ist hier Australien. Die Einkommensschere ist hier auch weltweit am wenigstens geöffnet, was aufzeigt, dass Reichtum nicht von Entwicklung abgekoppelt werden kann : ein Land ist nur dann wirklich reich, wenn es sich irgendwann einmal in seiner Geschichte mit Mechanismen ausgestattet hat, die Reichtümer umzuverteilen. Denn von den letzteren geht ohne proaktive Maßnahmen keinerlei “Trickle-Down-Effekt” aus, im Gegensatz zu dem, was bestimmte Ökonomen zu glauben vorgeben (Guieysse et Rebour, 2022).
Bei alledem stellen diese zwanzig sehr begünstigten Staaten keineswegs ein zu erreichendes Vorbild für Entwicklung dar : Kanada, Luxemburg, Australien und die Vereinigten Staaten gehören sämtlich zu den fünfzehn Ländern mit den höchsten CO2-Emissionen pro Kopf, zusammen mit acht kleinen Ölstaaten, wobei lediglich die Emissionen im Inland berücksichtigt wurden, während ihr massiver Import von Konsumgütern nicht in Rechnung gestellt ist (Quelle Weltbank 2019). Dabei sei angemerkt, dass Frankreich, längst nicht das reichste Land dieser Gruppe ist (Pro-Kopf-BIP auf Platz 19 von 20, vor Japan), jedoch eines der egalitärsten (auf Platz 5 hinter Island, Norwegen, Schweden und die Niederlande), auch wenn die egalitärsten Länder der Welt zur Klasse 5 gehören (Slowakei und Tschechische Republik).
Dokument 7. Welt(en) und Entwicklung : sechs Gruppen, sechs Laufbahnen |
Bei diesem Vorgehen ist es auch interessant, zum besseren Verständnis bestimmter Strukturierungen die Diskretisierung weiter zu präzisieren. Jede neue Stufe verfeinert die gewonnene Darstellung der Welt, jedoch geht dabei mit zunehmender Genauigkeit die Verständlichkeit verloren. Wir stellen in Kasten 1 die Ergebnisse von einer Diskretisierung in zwei und in acht Klassen vor.
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Schlussfolgerung
Als wir feststellten, dass die Überwindung der Nord-Süd-Grenze bisher nicht den Willen der Geographen motiviert hat, eine neue Aufteilung der Welt in Hinsicht auf Reichtums – und Entwicklungsniveaus vorzuschlagen, haben wir versucht, mit so wenigen und unveränderten Indikatoren wie nur möglich, die Wirtschafts – und Sozialorganisation der Welt in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Diese folgt mehreren Jahrzehnten von Wirtschaftskrisen bei den am meisten begünstigten Staaten, sowie dem Kampf gegen die Armut in den anderen Ländern. In einer dritten Gruppe, der zahlreichsten, fand in diesen Jahren ein Aufschwungsprozess statt, der sich im gleichzeitigen Anstieg des durchschnittlichen Wohlstands und der internen Ungleichheiten widerspiegelt.
Unser Vorschlag einer neuen Aufteilung bildet eine Welt ab, die nicht mehr in zwei, sondern in drei Großgruppen gegliedert ist, welche nochmals in sechs Untergruppen unterteilt sind. Diese Gruppen sind keine “Blöcke”, sondern durch die statistische Nähe von Kategorien entstanden, wobei die Statistik ein unvollkommenes Abbild einer rohen Wirklichkeit ist, roh wie die Säuglingssterblichkeit oder der Reichtum einer Bevölkerung.
So entsteht das Bild einer Welt, in der die begünstigten Länder einen geschlossenen Klub bilden, der von einem Erbe profitiert, das über lange Zeiträume erworben wurde. Um diesen Klub gibt es ein “Vorzimmer” mit Randzonen, von durch Krisen anfällig gewordenen Staaten der europäischen Union oder von erst seit kurzem aufgenommenen Staaten hin zu den Ölstaaten, die früher einmal zum “Süden” gezählt wurden. In diesem Weltbild bilden die Schwellenländer eine große Gruppe, mit einem Löwenanteil an Ländern und an der Weltbevölkerung, mit überall einem Anstieg des durchschnittlichen Wohlstands, oft schlecht verteilt, der jedoch höchst verschiedenartige Situationen abdeckt : Vom chinesischen Giganten zu Binnenstaaten, die viel weniger an der Globalisierung teilnehmen. Diese dreigeteilte Beschreibung schließt mit einer Gruppe, die in der Armutsfalle steckt und deren andauernde soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten zeigen, dass weltweite Solidarität, trotz aller Bemühungen von internationalen Organisationen, bislang frommer Wunsch geblieben ist. In einigen dieser Länder gibt es zwar einen wachsenden Reichtum, der allerdings von nur ein paar wenigen gehortet wird, wie im südlichen Afrika. Wir haben auch gezeigt, dass die Nord-Süd-Grenze, obwohl ihr Name inzwischen unberechtigt ist, immer noch auf gewissen Karten herumspukt, wie auch bestimmte Grenzen, die noch lange nach ihrem Verschwinden auf manchen thematischen Karten zu finden sind.
Diese Arbeit unterstreicht die deutlichen und spektakulären geographischen Umgestaltungen des weltweiten Entwicklungsgebäudes in den letzten vier Jahrzehnten. Sie sind eng mit nationalen oder innerkontinentalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Laufbahnen verknüpft, welche ein System bilden. Diese dynamischen Kräftespiele laden dazu ein, die Welt in ihrer Vielfältigkeit und Komplexität zu begreifen und neu zu denken, beim Übergang von einem Nord-Süd-Dualismus zu einem multifunktionalen Weltsystem. Obwohl von der geopolitischen Sphäre unterschieden und nicht allein darauf zu reduzieren, entspricht es darin der Mehrpoligkeit des Mächtegleichgewichts. Damit werden auch die beträchtlichen Fortschritte der Menschheit weltweit hervorgehoben, die in relativ kurzer Zeit im Vergleich zur geschichtlichen Langzeitperspektive stattgefunden haben, wie auch die immensen Herausforderungen der Zukunft, um eine wahrhaft nachhaltige, integrierende und solidarische Entwicklung zu garantieren.
Bibliographie
- Sauvy Alfred (1952), « Trois Mondes, une planète », L’Observateur, 14 août 1952, p. 5. Reproduit dans Vingtième siècle, 1986, p. 81-83.
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- Capdepuy Vincent (2007), « La limite Nord/Sud », Mappemonde, n° 88, décembre 2007.
- Carroué Laurent (2019), Géographie de la mondialisation. Crises et basculements du monde, Armand Colin, collection « U », 4e éd., Paris.
- Carroué Laurent (2020), Atlas de la mondialisation – Une seule Terre, des mondes, Autrement, collection Atlas, 2e éd., Paris.
- Chancel Lucas (2021) (dir.), Thomas Piketty, Emmanuel Saez et Gabriel Zucman, Rapport sur les inégalités mondiales 2022, Word Inequality Lab, déc. 2021 (voir cette brève)
- Chasles Virginie (2022), « Les inégalités de santé dans les pays émergents, le cas de l’Inde », Géoconfluences, septembre 2022.
- Didelon, Clarisse, Vandermotten, Christian et Dessouroux, Christian, « Un autre monde ? Cartographier le monde sans frontière : enjeux méthodologiques et sociaux ». Comité français de cartographie, n° 234, décembre 2017.
- Dufour, Françoise (2007). « Dire "le Sud" : quand l'autre catégorise le monde », Autrepart, vol. 41, no. 1, 2007, p. 27-39.
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- Grataloup Christian (2015), « Nord / Sud, une représentation dépassée de la mondialisation ? », Les Cafés géographiques, 8 février 2015.
- Guieysse, Jean-Albert, et Thierry Rebour. « Le "ruissellement" des métropoles sur les territoires : mythe ou réalité ? », Population & Avenir, vol. 759, no. 4, 2022, p. 4-7.
- Hugon, Philippe (2005). « Environnement et développement économique : les enjeux posés par le développement durable », Revue internationale et stratégique, vol. 60, no. 4, 2005, p. 113-126.
- Maurin Louis, (1996) « Comment construit-on le PIB ? », Alternatives économiques, décembre 1996.
- Montalieu Thierry (2019), « L’émergence au prisme des agences de notation », Mondes en développement, vol. 186, no. 2, 2019, p. 61-84.
Jean-Benoît BOURON
Agrégé de géographie, responsable éditorial de Géoconfluences (DGESCO, ENS de Lyon)
Laurent CARROUÉ
Inspecteur général de l’éducation, du sport et de la recherche, directeur de Recherche à l’Institut Français de Géopolitique (IFG), Paris VIII
Hélène MATHIAN
Ingénieure de recherche (méthodes en analyse spatiale), CNRS, UMR 5600 EVS (environnement, ville, société), CNRS
aus dem Französischen übersetzt von
Charlotte MUSSELWHITE-SCHWEITZER
Webbearbeitung : Jean-Benoît Bouron
Diesen Artikel zitieren:
Jean-Benoît Bouron, Laurent Carroué und Hélène Mathian, « Die Welt darstellen und aufteilen : die Nord-Süd-Grenze überwinden, um die Ungleichheiten von Reichtum und Entwicklung neu zu denken », Géoconfluences, Dezember 2022. Aus dem Französischen übersetzt von Charlotte Musselwhite-Schweitzer im April 2023.
URL: https://geoconfluences.ens-lyon.fr/programmes/dnl/dnl-hg-allemand/die-welt-darstellen-und-aufteilen
Pour citer cet article :
Jean-Benoît Bouron, Laurent Carroué, Hélène Mathian, Traduction en allemand : et Charlotte Musselwhite-Schweitzer, « Die Welt darstellen und aufteilen : die Nord-Süd-Grenze überwinden, um die Ungleichheiten von Reichtum und Entwicklung neu zu denken », Géoconfluences, avril 2023.
https://geoconfluences.ens-lyon.fr/programmes/dnl/dnl-hg-allemand/die-welt-darstellen-und-aufteilen